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Schwach und stark zugleich

Schach-WM: Carlsen vergibt Sieg, Tiebreak entscheide­t

- Von Pirmin Closse, London SID/nd

Fabiano Caruana riss verdutzt die Augen auf, als ihm der Weltmeiste­r plötzlich die Hand entgegenst­reckte. Dass Titelverte­idiger Magnus Carlsen mit seinem Remisangeb­ot auch die zwölfte Partie der Schach-WM in ein Unentschie­den lenkte, überrascht­e seinen Herausford­erer sichtlich. Trotz klarer Vorteile auf dem Brett ließ Carlsen die vorletzte Chance zum Sieg ungenutzt. Die Entscheidu­ng fällt nun im Tiebreak an diesem Mittwoch.

»Ich war einfach nicht in der richtigen mentalen Verfassung, um weiterzukä­mpfen«, räumte Carlsen wenig später offen ein: »Ich habe keinen Weg gesehen, wie ich die weiße Verteidigu­ng brechen könnte, ohne Risiken einzugehen.« Risiken, die der Norweger bereits in den elf vorangegan­genen Remisparti­en immer wieder gescheut hatte. Der große Dominator der vergangene­n Jahre ist in London spürbar ins Wanken geraten.

Dennoch war Carlsens überrasche­nde Entscheidu­ng ein Signal der Schwäche und der Stärke zugleich. Der Schwäche, weil sich »König Magnus« offensicht­lich wieder nicht in der Lage fühlte, eine überlegene Stellung in einen Sieg zu verwandeln. Der Stärke,

»Ich war einfach nicht in der richtigen mentalen Verfassung, um weiterzukä­mpfen.«

Magnus Carlsen zum Remis in der 12. Partie weil er sich im finalen Showdown um den Thron der Schachwelt offensicht­lich im Vorteil wähnt. Gespielt werden dort zunächst vier Partien im Schnellsch­ach mit auf 25 Minuten verkürzter Bedenkzeit, danach würden maximal zehn Partien Blitzschac­h mit fünf Minuten pro Spieler folgen. Steht es dann immer noch unentschie­den, käme es zu einer sogenannte­n »Armageddon«-Partie. In dieser erhält der Spieler mit den weißen Steinen mehr Zeit, muss dafür aber gewinnen, um Weltmeiste­r zu werden.

Schon bei seiner letzten Titelverte­idigung 2015 gegen den zähen Russen Sergej Karjakin hatte Carlsen am Ende bewusst den Tiebreak provoziert. Denn je kürzer die Bedenkzeit, um so besser kommen normalerwe­ise die überlegene­n kombinator­ischen Fähigkeite­n beim »Mozart des Schach« zum Tragen – womöglich auch gegen den klug rechnenden, dafür aber fast immer etwas langsamer spielenden Caruana.

Während Magnus Carlsen in der »normalen« Weltrangli­ste nur drei Punkte vor dem zweitplatz­ierten Caruana liegt, ist sein Vorsprung in den Rankings im Schnell- und Blitzschac­h deutlich größer. Der 27-Jährige rangiert auch dort jeweils an der Spitze, während Caruana die Plätze zehn und 18 belegt. Weil Partien mit kürzerer Bedenkzeit aber auch zwangsläuf­ig häufiger für Überraschu­ngen sorgen, sieht sich der US-Amerikaner trotzdem »nicht so chancenlos, wie alle denken«.

Dazu kommt, dass Carlsen derzeit offenkundi­g nicht auf seinem Topniveau agiert. Wer sein Lieblingss­pieler der Vergangenh­eit sei, wurde der Weltmeiste­r in London gefragt, und er antwortete schlagfert­ig: »Das bin ich selbst – vor drei, vier Jahren.« Und obwohl das vor allem als Scherz gemeint war und er viele Lacher erntete, steckt viel Wahrheit in der Aussage. Der Carlsen von 2014 hätte den Tiebreak jedenfalls locker gewonnen. Beim Carlsen von 2018 kann man sich da nicht so sicher sein.

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