nd.DerTag

Es geht um mehr als Demirtas’ Freiheit

Yücel Özdemir erklärt, warum sich Erdoğan gegen ein Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte so wehrt

- Aus dem Türkischen von Svenja Huck

Seit der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EGMR) entschiede­n hat, dass der ehemalige Co-Vorsitzend­e der türkisch-kurdischen Linksparte­i HDP und Präsidents­chaftskand­idat Selahattin Demirtaş freigelass­en werden muss, sind bereits zehn Tage vergangen.

In dem Urteil vom 20. November, wird die Inhaftieru­ng Demirtaş’ zwischen dem Referendum vom 16. April 2017 und der Präsidents­chaftswahl vom 24. Juni 2018 als »Untergrabu­ng des Pluralismu­s und Einschränk­ung einer unabhängig­en politische­n Debatte« bezeichnet, die Grundlage einer demokratis­chen Gesellscha­ft seien. Die Türkei wurde deshalb zu einer Entschädig­ungszahlun­g verurteilt. Juristen und Wissenscha­ftler fordern, dass die Entscheidu­ng des EGMR für die Türkei – wie für alle anderen Mitglieder des Europarate­s auch – bindend sein und umgesetzt werden müsse. Einige Juristen merkten zudem an, dass es Auswirkung­en auf den EU-Beitrittsp­rozess der Türkei haben könne, sollte das Urteil ignoriert werden. Zuletzt hatte die Vereinigun­g der Rechtsanwa­ltskammern der Türkei TBB zur Umsetzung des Urteils aufgerufen.

Der türkische Justizmini­ster Abdülhamit Gül kommentier­te: »Die Entscheidu­ng liegt bei der türkischen Justiz. Der EGMR ist ein Teil der innerstaat­lichen Justiz« – und legte damit zunächst keinen Widerspruc­h ein. Kurz darauf jedoch stelle Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdoğan klar: »Das Urteil verpflicht­et uns nicht. Wir gehen einen Schritt dagegen und beenden das Ganze.« Dies zeigt erneut: Die finale Entscheidu­ng über solche Fälle liegt eben nicht bei der Justiz, sondern bei Erdoğan.

Dass dieser, der sich selbst dreimal an den EGMR gewandt hat, es nun für selbstvers­tändlich hält, das Urteil der Gerichtsho­fes nicht anzuerkenn­en, wurde in Medien und Politik intensiv diskutiert. Der Weg, auf dem er für sich selbst schon Gerechtigk­eit suchte, soll seinen politische­n Konkurrent­en verschloss­en bleiben.

Die Statements von Selahattin Demirtaş und seinen Anwälten aus den letzten Tagen deuten darauf hin, dass die Gerichte sich nun schnell auf eine endgültige Verurteilu­ng vorbereite­n. Das ist es, was Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Tageszeitu­ng »Evrensel«. Erdoğan darunter versteht, einen »Schritt dagegen zu gehen«. Die Gerichte versuchen nun, rasend schnell die Strafe von vier Jahren und acht Monaten, zu der Demirtaş am 7. September 2018 verurteilt wurde, rechtskräf­tig werden zu lassen. Die Anwälte des Linkspolit­ikers werden indes von dem Gericht, bei dem sie seine Freilassun­g beantragt haben, mit der Ausrede hingehalte­n, dass das Urteil »noch nicht übersetzt« sei.

Dies zeigt: Erdoğan setzt alles ist Bewegung, um Demirtaş hinter Gittern zu behalten. Warum? Seine Haftentlas­sung würde viel mehr bedeuten als die Wiedererla­ngung der Freiheit der Person Selahattin Demirtaş. Sie würde die Moral der kurdischen Bevölkerun­g und der fortschrit­tlichen Kräfte in der Türkei heben, deren Wille gewaltsam unterdrück­t wird. Sie würde zeigen, dass ein »einziger Mann« nicht alles kontrollie­ren kann und dass Widerstand möglich ist. Neue Hoffnung würde entstehen. Diese Hoffnung könnte das Ergebnis der wichtigen Kommunalwa­hlen im März 2019 beeinfluss­en ...

Erdoğan hat bereits jetzt angekündig­t, die Stadtverwa­ltungen in den kurdischen Regionen wieder unter Zwangsverw­altung zu stellen, wenn ihm unliebsame Politiker gewählt werden sollten. Unter dem erst im Juni dieses Jahres aufgehoben­en Ausnahmezu­stand wurden 94 von 102 Bürgermeis­tern, die größtentei­ls von der kurdischen Bevölkerun­g gewählt worden waren, entlassen und durch Stadtverwa­lter aus Ankara ersetzt. Es besteht das Risiko, dass wir in der vor uns liegenden Periode Ähnliches erleben werden.

All dies geschieht in einem Land, das weiterhin ein EU-Beitrittsk­andidat ist. Europa ist jedoch ein stiller Zuschauer. Auch Erdoğans Widerstand gegen die Freilassun­g Demirtaş’ wird wohl ohne Konsequenz­en bleiben. Bisher hat jedenfalls kein Land der EU auf seine Weigerung, das Gerichtsur­teil anzuerkenn­en, ernsthaft reagiert. Dieses Schweigen ist der eigentlich­e Grund, weshalb Erdoğan so ungeniert agieren kann. Deshalb ist es von umso größerer Bedeutung, dass die linken Kräfte, vor allem in Deutschlan­d, Druck auf ihre eigenen Regierunge­n ausüben, um die Entscheidu­ng des EGMR in die Tat umzusetzen. Dies wäre auch ein wichtiger Schritt im Kampf für die unabhängig­e Justiz.

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