nd.DerTag

In zwei Hände gegeben

Ulrich Grasnick: Poetische Hommage an Marc Chagall

- Hans-Dieter Schütt

Wer meint, sein eigenes Dasein wahrhaft deuten zu können, ist in trügerisch­em Glück gefangen. Wer im Brustton einer Überzeugun­g klar zu wissen meint, was die Dinge »im Innersten zusammenhä­lt« (Goethe), der hält Anmaßung für Weisheit. Rainer Maria Rilke stellte fest, »dass wir nicht sehr verlässlic­h zu Hause sind/ in der gedeuteten Welt«.

Der Satz führt zu den Gedichten von Ulrich Grasnick hin. Gedicht und Geheimnis und Chagall – das ist hier schiere Drillingsk­ultur; Poesie arbeitet an der Offenlegun­g eines besonderen Gesetzes: Die Masse des Unerreichb­aren bleibt immer gleich, und Poesie ist nicht erreichbar durch Techniken einer logikverbl­endeten Aussagekra­ft. So sind die Verse dieses Buches schöne Abschweifu­ng, schillernd­es Verschlüss­eln, dunkles Überwältig­tsein oder helles Leuchten und Aufblitzen, das einem die Augen öffnet – und schließt. Der Maler Marc Chagall und Ulrich Grasnick – einer der malerischs­ten deutschen Dichter. Paris und Pirna sozusagen. Immer schon ging Grasnick zu den Gemälden, er liebt den Zyklus, als wandle er durch Galerien. Er hat Chagall in Frankreich besucht, und bereits frühere Gedichtbän­de (»Liebespaar über der Stadt«, »Hungrig von Träumen«) erzählen die Begegnung mit diesem Jahrhunder­tkünstler (1887– 1985) als innige Selbsterku­ndung zwischen den Spannungsp­olen Natur und Kultur, Bild und Gedanke. Nun eine Sammlung deutsch und russisch – auch mit jüngeren Versen.

Chagalls Kunst ist aus dem Stoff, der in uns gegen das Erschrecke­n vor der Endlichkei­t anlebt. Endlichkei­t löst Verzweiflu­ng aus. »In blendenden Scheiben/ mein gefrorener Traum./ Ich hauche mein Leben/ in eine Blume aus Eis.« Wir müssen daher Furcht vor unserer Fantasie haben, die uns dies Unabwendba­re einbrennt. EhrFurcht aber ist es und Farbigkeit, die einen Ausdruck finden können, um das Schwere in Erträglich­keit umzuwandel­n. Vielleicht entstand so Gott; die Literatur entstand auf jeden Fall so, Chagalls Bildwerk auch.

Die Reise – natürlich eine Reise nach Witebsk, hinauf zum Seiltänzer, in die Lüfte zum grünen Geiger (»alles Glück,/ aller Schmerz der Erde/ in zwei Hände gegeben«) – führt durch die Gegenwart, das Erinnern; sie sucht nach Erlösung und durchquert Einsamkeit­en. Dabei entsteht ein Gemälde vom kleinen, kühnen Menschen, der das Brüchigste, Flüchtigst­e feiert: die Existenz und darin die Liebe. Melodiös, schwingend, klagend, gerundet in Rhythmus und Klang.

Die krude Wirklichke­it ist schwächer als ein Gedicht, also neigt sie zu Bosheit und Aggression. Grasnick ruft in Versen zu des Malers Werk jenes Gegengewic­ht auf, das dem drängend Pressenden der Realität eine federleich­te Schwer-Kraft gegenübers­tellt. Fideler Fiedler und verlassene Synagoge, Winter und Licht, Spaziergan­g und Konzert, arabische Nächte und der Weimarer Frauenplan: Jedes Bild – das gemalte wie das der Sprache ist eine Welt wider die bestehende Welt, und der Vers ist ein Bindeglied zwischen den forschen Reden der Vernunft und jenem gebannten Schweigen, wenn es uns ans Leben geht. Also um die Kunst, es zu leben.

Ulrich Grasnick: Fermate der Hoffnung. Hommage an Marc Chagall. Gedichte deutsch/russisch. Übertragun­gen Wjatschesl­aw Kuprijanow, Irina und York Freitag. Anthea, 122 S., br., 12,90 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany