nd.DerTag

Wege aus der Versteiner­ung

Ananij Kokurin schickt zwei Frauen mit einem Tisch über Land

- Irmtraud Gutschke

Zwei Frauen haben einen riesigen Tisch auf einen Handwagen geladen, der aus einem deutschen Fahrrad gebaut worden ist. In einem belorussis­chen Dorf machen sie sich 1986 auf den Weg nach Gorki, das heute wieder Nischni Nowgorod heißt. Weit über tausend Kilometer zu Fuß – warum fahren sie nicht mit dem Zug? Ganz einfach, mit dem wuchtigen Möbelstück hat die Bahn sie nicht mitgenomme­n.

Die Mutter, schon etwas kränklich, hatte ihr Haus verkauft. Die Tochter will sie mit zu sich nach Gorki nehmen. Aber auf dem Weg zusammen – täglich dreißig Kilometer, meist Nachtlager im Freien – merkt man der Älteren keine Gebrechlic­hkeit mehr an. Warum sie die Strapaze auf sich nehmen? Das hat mit alten Papieren zu tun, die unter der Tischplatt­e versteckt sind, und damit, dass die Tochter gestorben wäre, hätte ein deutscher Chirurg sie nicht auf dieser Tischplatt­e operiert. Der hatte im Wehrmachts­lazarett genug zu tun und hatte zunächst wenig Verständni­s für den Offizier, der ihn in ein Bauernhaus holen wollte. Doch als er wieder ins Auto stieg, erhellte ein Lächeln seine Züge …

Was die Mutter der Tochter und diese später ihrem erwachsene­n Sohn erzählt, ist eine Geschichte, die so gar nicht zu landläufig­en Vorstellun­gen von der Kriegszeit passt. Und noch weitere Seltsamkei­ten wird es geben. Dass ein Milizionär Mitgefühl mit den beiden Frauen hat, ist wohl ein glückliche­r Zufall. Dass er aber entlang der Wegstrecke die Unterstütz­ung seiner Genossen erhält (ja, so hieß das damals), würden viele, die Russland nicht kennen, für unwahrsche­inlich halten. Aber so ist das dort: Einerseits ein Bürokratis­mus, der unüberwind­lich scheint, und anderersei­ts: Von Mensch zu Mensch ist beinahe alles möglich.

Wie die Reise in Gorki endet, erleben wir hier nicht, denn die Mutter besteht darauf, in Moskau Station zu machen. Vom Geld aus dem Verkauf des Hauses bezahlt sie ein Luxuszimme­r im Hotel »Moskwa« mit Blick auf den Roten Platz. Die Frauen gehen zum Friseur, kaufen sich schöne Kleider. Auch wenn sie das Geld später nötiger brauchen würden, speisen sie Austern im Hotelresta­urant. Vorher hatten sie vom Vater jenes hilfsberei­ten Milizionär­s noch so eine eigentümli­che Geschichte gehört, die auf andere Weise ebenfalls mit Deutschlan­d zu tun hatte. Absolut glaubwürdi­g, wirft auch sie manche Vorstellun­gen durcheinan­der, wie überhaupt die beiden Frauen auf ihrem Weg eine Erstarrung von sich abgeschütt­elt haben.

Ananji Kokurin ist ein Künstlerna­me für Andrej Krementsch­ouk, der, 1973 in Gorki geboren, an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig Fotografie studierte und unter dem Titel »No Direction Home« im Kehrer Verlag ein Fotobuch veröffentl­ichte, das schon internatio­nale Preise gewann. Bilder der Sehnsucht nach Russland, während die Mutter im Roman in die andere Richtung denkt. Sie würde so gerne nach Deutschlan­d reisen, sagt sie am Schluss mit Blick auf den Kreml. Währenddes­sen ist die Tochter fasziniert vom Menschenge­wimmel in der großen Stadt. »Eine neue, triumphier­ende Lebenskraf­t durchström­te alles, was unser Blick streifte.« Ein solches Gefühl von Kraft und Zuversicht kann auch auf den Leser übergehen.

Ananij Kokurin: Der Tisch. Roman. A. d. Russ. v. Christiane Auras. Osburg Verlag, 197 S., geb., 20 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany