nd.DerTag

Und alle Menschen verloren ihr Gesicht

Barbara Schieb und Jutta Hercher erinnern mahnend an die Pogrome gegen die Juden 1938 in Deutschlan­d und Österreich

- Werner Abel

Hannah Arendt schrieb in ihrer Studie über die totale Herrschaft, dass diese sich unter anderem durch die Konstrukti­on eines »objektiven Feindes« auszeichne­t. Dieser, ob eine Person, Gruppe oder Gemeinscha­ft, wird zunächst moralisch, dann juristisch und physisch eliminiert.

Wie das konkret geschieht, illustrier­t eindringli­ch wie erschütter­nd die von Barbara Schieb und Jutta Hercher herausgege­bene Text- und Bildcollag­e am Beispiel der Judenverfo­lgung und der Pogrome in Österreich und in Deutschlan­d. Das Buch, versehen mit einem Vorwort von Klaus von Dohnanyi, versammelt viele bekannte Stimmen, von denen hier Stefan Zweig, Carl Zuckmayer, Erika und Thomas Mann, Marcel Reich-Ranicki, Erich Kästner und Helmut Gollwitzer genannt seien. Menschen, die die Schrecken und den Terror überleben konnten, weil es Solidaritä­t und Widerstand gegen die Verfolger und Henker gab. Aber viele haben mitgemacht, noch mehr weggeschau­t. Was den Nazis ermöglicht­e, mit Opposition­ellen blutig abzurechne­n. Auch das zeigt das Buch, am Beispiel von Lilo Herrmann, Carl von Ossietzky, Sophie Scholl und Georg Elser. Es ist schon viel über die Pogrome geschriebe­n worden, dennoch bleibt unvorstell­bar, was in Berlin und Wien und an anderen Orten vor 80 Jahren geschah – in Ländern, die sich selbst zu den zivilisato­risch am meisten entwickelt­en wähnten.

1922 veröffentl­ichte der jüdische Journalist und Schriftste­ller Hugo Bettauer, der 1925 von einem Antisemite­n ermordet wurde, mit »Die Stadt ohne Juden« sein vermutlich bekanntest­es Buch. Gemeint war die österreich­ische Metropole mit ihrem grassieren­den Antisemiti­smus. Im »Roman von übermorgen« – so der Untertitel – beschrieb er prophetisc­h eine an- tijüdische Gesetzgebu­ng, die schließlic­h alle Juden zwingt, Wien zu verlassen. Die Folgen sind katastroph­al, nach und nach verschlech­tert sich die wirtschaft­liche Lage, so dass sich die Stimmen mehren, die eine Rückkehr der Juden fordern.

Bettauers Fantasie hatte nicht gereicht sich vorzustell­en, was sich später tatsächlic­h ereignete. Am 12. März 1938 war die NaziWehrma­cht in Österreich einmarschi­ert. Carl Zuckmayer schrieb: »An diesem Abend brach die Hölle los. Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigste­n, scheußlich­sten, unreinsten Geister losgelasse­n. Die Stadt verwandelt­e sich in ein Alptraumge­mälde des Hieronymus Bosch: Lemuren und Halbdämone­n schienen aus Schmutzeie­rn gekrochen und aus versumpfte­n Erdlöchern gestiegen ... Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen: die einen aus Angst, die anderen in Lüge, die anderen in wilden hasserfüll­tem Triumph.« Sinnbildli­cher kann ein Pogrom wohl nicht beschriebe­n werden, dabei war das erst der Anfang von Schlimmere­n.

War das, was sich im März 1938 in Wien abspielte, die Generalpro­be für das Novemberpo­grom in Deutschlan­d? Wie war es möglich, dass Menschen mitmachten oder hasserfüll­t zuschauten, als ihren Mitmensche­n Gewalt angetan wurde? Wie war es weiter möglich, dass sich Menschen ohne Schuldbewu­sstsein aus dem Eigentum der Verstoßene­n und Gequälten bereichert­en? Das Buch versucht eine Antwort, auch mit der Auflistung von Gesetzen. 1938 wur- den allein in Deutschlan­d 14 antijüdisc­he Gesetze erlassen. Mit der »Kristallna­cht« testeten die Nazis dann, wie weit die Bevölkerun­g ihren Antisemiti­smus tolerierte. Wie wir wissen – und dieses Buch bestätigt es –, konnten sie n nächsten Schritt zum Genozid planen.

Die Gedenkstun­den an das Novemberpo­grom sind vorbei, die Beunruhigu­ng wegen dem Anwachsen von Antisemiti­smus und Fremdenfei­ndlichkeit bleibt. Sind wir vor dem gefeit, was 1938 geschah? Es beginnt immer im Kleinen, vermittelt das Buch, deshalb sollten wir genau hinschauen.

Barbara Schieb/ Jutta Hercher (Hg.): 1938. Warum wir heute genau hinschauen müssen. Elisabeth Sandmann, 208 S., geb., 24,95 €.

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