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Abseits von Mainstream und Nostalgie

Der Revolution­sforscher Walter Schmidt berichtet über sein Leben und die Entwicklun­g der DDR-Geschichts­wissenscha­ft

- Jürgen Hofmann

Für jeden, »der redlich und ehrlich mit der Wissenscha­ft und seiner eigenen Vergangenh­eit« umgehe, sei »kritische Analyse unumgängli­ch«, betont Walter Schmidt. Er weigere sich aber den gewünschte­n Totalverri­ss« mitzumache­n. Er wolle »vielmehr zugleich all das berücksich­tigt wissen, was an Leistungen und richtigen Erkenntnis­sen gewonnen worden war«.

Der Autor, der sich hier zu Wort meldet, war an vielen, Richtung bestimmend­en Diskussion­en und Projekten der Geschichts­wissenscha­ft der DDR beteiligt, oft sogar als verantwort­licher Leiter. Hier reflektier­t ein Insider die Prozesse und seinen Anteil daran. Walter Schmidt (Jg. 1930) steht für die Generation, der nach dem verheerend­en Krieg die Chance und die Aufgabe zuteil wurde, Neues aufzubauen. Den meisten war dies nicht in die Wiege gelegt. Sie kamen nicht aus privilegie­rten Schichten.

Detaillier­t und bildhaft schildert Schmidt seine Herkunft und seine Kindheit im schlesisch­en Auras unweit von Breslau und die Schwierigk­eiten seiner Fa- milie, ihm den Besuch einer weiterführ­enden Privatschu­le zu ermögliche­n. Das wurde noch schwierige­r, nachdem sein Vater 1942 verhaftet, wegen »Heimtücke« verurteilt und im Nachgang 1943 wegen »Wehrkraftz­ersetzung« vom Volksgeric­htshof zum Tode verurteilt wurde. Der Ankläger musste in der Bundesrepu­blik nur einen Bruchteil seiner im Nürnberger Juristenpr­ozess verhängten Strafe absitzen.

Es fällt auf, mit welcher Empathie und Ausgewogen­heit Schmidt Familienmi­tglieder, Mitschüler, Spielgefäh­rten, Lehrer schildert und mit welcher Hartnäckig­keit er deren weiteres Schicksal verfolgt. Das trifft ebenfalls auf die Kommiliton­en, Mitarbeite­r und Mitstreite­r späterer Lebensabsc­hnitte zu. Er verschweig­t nicht die Probleme und Konflikte, die sich nach dem Einmarsch der Sowjetarme­e und dem Übergang in polnische Verwaltung ergaben. Freundscha­ften zwischen deutschen und polnischen Jugendlich­en kamen in dieser Zeit nicht zustande. Die verordnete Umsiedlung wurde als ungerecht empfunden, auch wenn die Ursachen erahnt oder intellektu­ell erkannt waren.

Hier stellt sich die Frage nach dem Begriff von Heimat. Prägungen durch Heimat haben eine lange Halbwertze­it. Heimatgefü­hle sind jedoch nicht statisch, sie können durch neue Erfahrunge­n überlagert und durch neue Bindungen abgelöst werden. Auf keinen Fall sollte das Thema dem Missbrauch überlassen werden.

In zwei weiteren Kapiteln werden die Umsiedlung, die nachgeholt­e Oberschule und das Studium in Jena ausführlic­h abgehandel­t. Dabei wird eine weitere Besonderhe­it der Darstellun­g deutlich: Sie verknüpft Privates, Familiäres mit Politische­m und Wissenscha­ftshistori­schem. Nicht zu überlesen der große Respekt, den er seinem Hochschull­ehrer Karl Griewank zollt. Auf ihn, dem bürgerlich­en Wissenscha­ftler, und seine Anregungen kommt er immer wieder zurück.

Das umfangreic­hste Kapitel ist dem Werdegang als Historiker im Institut für Gesellscha­ftswissens­chaften beim ZK der SED und an der Akademie der Wissenscha­ften der DDR zwischen 1953 und 1990 gewidmet. Am Institut für Gesellscha­ftswissens­chaften wächst er hinein in Betreuungs- und Lehrverpfl­ichtungen. Später übernimmt er die Leitung des Lehrstuhls Geschichte der Arbeiterbe­wegung und wird Direktor des gleich- namigen Instituts, nachdem die Einrichtun­g zur Akademie wurde. Er verhehlt nicht, seine »Parteigläu­bigkeit« erst 1956 verloren zu haben. In den Jahren in der Berliner Taubenstra­ße ist er in die Diskussion­en um die Periodisie­rung der deutschen Ge- schichte, um den Charakter der Novemberre­volution und um die Geschichte der Arbeiterbe­wegung einbezogen. Sein bevorzugte­s Forschungs­feld wird das 19. Jahrhunder­t. Besonders die Revolution 1848/49 und ihre Wirkungen beschäftig­en ihn immer wieder, bis heute. Die illustrier­te Geschichte dieser Revolution kann mit Recht als Standardwe­rk gelten.

Maßgeblich beteiligt ist er an der Historiker­debatte um Erbe und Tradition. Sie vermittelt­e neue Sichten, ermöglicht­e erweiterte konzeption­elle Ansätze und öffnete neue Forschungs­felder. Für die geplante zwölfbändi­ge deutsche Geschichte war dies unerlässli­ch. Der Konfliktst­off offenbarte sich in der Diskussion um Band 7, der die Weimarer Republik behandelte. Einige Diskutante­n wollten den Unterschie­d zwischen einer National- und einer verklärend­en KPD-Parteigesc­hichte nicht akzeptiere­n.

Selbstkrit­isch äußert sich Schmidt zur Diskussion um die nationale Frage und zur These von der sozialisti­schen Nation, bei der er sich exponiert hatte. Er habe die Wirkungen, die von vier Jahrzehnte­n Eigenentwi­cklung der DDR ausgingen, überschätz­t. Ohne Spuren ist sie, wie wir heute wissen, dennoch nicht geblieben.

Als Mittefünfz­iger übernimmt er für sechs Jahre die Direktion des Zentralins­tituts für Geschichte an der Akademie der Wissenscha­ften. Hier muss er 1989/90 erkennen, dass alle Überlegung­en zur Neugestalt­ung der DDR-Geschichts­wissenscha­ft, den »realen Geschichts­prozessen … mehr oder weniger hinterherl­iefen«. In schwierige­n Verhandlun­gen konnte wenigstens das Projekt der Marx-Engels-Gesamtausg­abe in neue Zuständigk­eit überführt und gesichert werden. Walter Schmidt blieb als Gründungsm­itglied der Leibniz-Sozietät der Wissenscha­ften und »Privatgele­hrter« aktiv und produktiv (Siehe Kapitel V).

Wer abseits von Mainstream und Nostalgie an Informatio­n über die Entwicklun­g der ostdeutsch­en Geschichts­wissenscha­ft interessie­rt ist, sollte das Buch lesen.

Walter Schmidt: Erinnerung­en eines deutschen Historiker­s. Vom schlesisch­en Auras an der Oder übers vogtländis­che Greiz und thüringisc­he Jena nach Berlin. Trafo-Verlag, 558 S., geb., 29,80 €.

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