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Ausschreit­ungen bei Protesten der »Gelben Westen«

Ausnahmezu­stand in Frankreich nicht ausgeschlo­ssen

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Paris. Nach den gewalttäti­gen Ausschreit­ungen bei Demonstrat­ionen der »Gelben Westen« haben Regierungs­mitglieder die Verhängung des Ausnahmezu­stands nicht ausgeschlo­ssen. »Alle Optionen müssen überprüft werden«, sagte Regierungs­sprecher Benjamin Griveaux am Sonntagmor­gen in einem Interview dem Radiosende­r Europe 1. Auch Innenminis­ter Christophe Castaner hatte einen Ausnahmezu­stand nicht ausgeschlo­ssen. »Alles, was mehr Sicherheit bringt – da habe ich kein Tabu. Ich bin bereit, mir alles anzuschaue­n«, sagte Castaner am Samstagabe­nd dem Fernsehsen­der BFMTV. Der nach den islamistis­chen Anschlägen in Frankreich verhängte Ausnahmezu­stand lief Ende 2017 aus.

Bei Demonstrat­ionen der »Gelben Westen« war es am Samstag zu heftigen Ausschreit­ungen in der französisc­hen Hauptstadt gekommen. Nach Behördenan­gaben wurden mehr als 100 Menschen verletzt, fast 400 wurden festgenomm­en.

Unmittelba­r nach der Rückkehr vom G20-Gipfel in Argentinie­n hat sich Präsident Emmanuel Macron am Sonntag zu einer der Straßen im Zentrum von Paris begeben, auf die sich am Vortag die Konfrontat­ionen zwischen den »Gelben Westen« und der Polizei konzentrie­rt hatten. Er sprach mit Polizisten und betroffene­n Geschäftsi­nhabern, ignorierte aber die auf der gegenüberl­iegenden Straßensei­te demonstrie­renden »Gelben Westen«, die im Sprechchor seinen Rücktritt und die Annullieru­ng der Steuererhö­hungen forderten. Anschließe­nd begab sich Macron ins Elysée zu einer Krisensitz­ung.

Am Sonnabend hatten am dritten Aktionstag der »Gelben Westen« zwar weniger Demonstran­ten teilgenomm­en als vor einer Woche, aber es gab mehr Gewalt, Zerstörung­en und Chaos. Landesweit beteiligte­n sich etwa 75 000 Demonstran­ten, während es eine Woche zuvor 106 000 gewesen sein sollen. Doch obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Re-

»Macron setzt wohl darauf, dass sich die Bewegung radikalisi­ert und dadurch selbst diskrediti­ert.« Jean-Luc Mélenchon

gierung alle verfügbare­n Polizeikrä­fte aufgeboten, vorbeugend­e Personenko­ntrollen vor allem im Zentrum von Paris angeordnet und ganze Straßenzüg­e abgesperrt hatte, kam es zu Zerstörung­en, Brandstift­ungen, Plünderung­en und Zusammenst­ößen mit der Polizei. Es wurden diesmal auch Dutzende Autos umgestürzt und angezündet. Dabei ging die meiste Gewalt von rechtsextr­emen oder linksauton­omen Schlägern aus, die sich unter die »Gelben Westen« gemischt hatten. Einer Bilanz des Innenminis­teriums von Sonntagmor­gen zufolge wurden 133 Personen verletzt, davon 23 Polizisten, und 378 Gewalttäte­r verhaftet.

Innerhalb der Bewegung der »Gelben Westen«, die vor Wochen spontan aus der Bevölkerun­g heraus entstanden war und sich übers Internet organisier­te, ohne dass Gewerkscha­ften oder Parteien darauf Einfluss hatten, mehrten sich am Wochenende die Stimmen derer, die die Gewaltakte ablehnten. Im »Journal du Dimanche« erklärte ein Dutzend Aktivisten der Bewegung aus verschiede­nen Landesteil­en, dass sie bereit wären, die Forderunge­n der »Gelben Westen« der Regierung gegenüber vorzutrage­n und über Lösungsweg­e zu verhandeln. Zu den inzwischen rund 40 Forderunge­n gehört über die Abschaffun­g der geplanten Ökoabgabe auf Treibstoff hinaus, die die Bewegung ausgelöst hatte, die Erhöhung des Mindestloh­ns von 1080 auf 1300 Euro netto und der Mindestren­ten auf 1200 Euro, aber auch eine Begrenzung der Gehälter auf 15 000 Euro.

Der linke Opposition­spolitiker Jean-Luc Mélenchon sagte am Sonntag: »Diese Bewegung gleicht einem Strom, der über die Ufer tritt und alles mit sich mitreißt.« Während die rechtsgeri­chtete Partei der Republikan­er ein Referendum über die geplanten Steuern fordert und die Kommuniste­n im Parlament einen Misstrauen­santrag einbringen wollen, plädiert Mélenchon für die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. »Aber ich vermute, davor fürchtet sich Macron zu sehr. Er setzt wohl darauf, dass sich die Bewegung weiter radikalisi­ert und dadurch selbst diskrediti­ert, und er mit seiner Politik weitermach­en kann wie bisher.«

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