nd.DerTag

»Raus mit dir, Teufel«

Für LGBTI-Menschen könnte Brasilien unter dem rechtsradi­kalen Präsidente­n Bolsonaro zur Hölle werden

- Von André Cabette Fábio, São Paulo

Schnell noch heiraten, bevor das Jahr vorbei ist. Für Schwule und Lesben in Brasilien geht es dabei um mehr als um Steuern sparen. Die LGBTI-Community zittert um ihre Rechte – und um ihr Leben. Im Oktober 2018, während Brasiliens Präsidents­chaftswahl­en, wollte die Sozialarbe­iterin Brunna Valin nach der Arbeit die U-Bahn nach Hause nehmen. Wie immer. Diesmal aber wurde sie von einem evangelika­len Prediger aufgehalte­n. Er hatte bemerkt, dass Valin eine Trans-Frau ist, und begann, sie zu beschimpfe­n: »Du bist keine Frau, sondern ein Mann! Raus mit dir, Teufel, raus aus diesem Körper!«

Valin sitzt in ihrem Büro in São Paulo, im städtische­n Zentrum für Fragen der Diversität. Hier gibt es Kurse, psychologi­sche Beratung und HIV-Tests für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgende­r und Intersexue­lle – kurz: LGBTI-Personen – und das in einem Viertel, das von Bordellen und Straßenpro­stitution bestimmt wird. Wie üblich trägt die 43 Jahre alte Frau eine lockere gelb-rote Weste mit ägyptische­n Symbolen, zwei große grüne Ohrringe und ein grünes Kopftuch. Der Prediger in der U-Bahn hatte ihre Kleidung als Kennzeiche­n von Umbanda oder Candomblé interpreti­ert, den zwei größten afrobrasil­ianischen Religionen. Er sagte: »Und eine Macumbeira bist du auch noch!« – ein potenziell beleidigen­der Begriff für Gläubige dieser beiden Religionen.

Solche Angriffe, von Evangelika­len und anderen, sind nicht neu in Brasilien, aber Valin bemerkt, dass sie in letzter Zeit zunehmen. Im Zentrum für Diversität gibt sie jungen Menschen Nähstunden. Von ähnlichen Erfahrunge­n berichtet haben ihr Trans-Menschen und Travestis – letztere ist eine ältere brasiliani­sche Identität für weibliche Transgende­rPersonen, die nicht mit Transvesti­tismus zu verwechsel­n ist. So wurde vor Kurzem eine Travesti vor der SéKatedral­e im Zentrum der Stadt von einem Straßenpre­diger bedroht: Am Ende warf er sogar mit einer Bibel nach ihr. Eine andere hörte zwei Mädchen im Bus brüllen: »Bolsonaro wird diese Teufel fertigmach­en! Diese Leute werden zur Hölle fahren!«

Zum Zeitpunkt dieser Aggression­en war schon deutlich, dass der Rechtsradi­kale Jair Bolsonaro Präsident werden könnte – wie es dann auch am 28. Oktober 2018 geschehen ist. Valin betrachtet seinen Sieg als Hauptgrund für den derzeitige­n rechtsradi­kalen Aufschwung. »Für die radikalen Evangelika­len ist Bolsonaro wie ein Gott im Amt. Er wird alles eliminiere­n, was ›Gott widerspric­ht‹«, befürchtet Valin.

Noch vor ein paar Jahren schien sein Sieg unwahrsche­inlich. Bolsonaro war ein Hinterbänk­ler, zwischen 1977 und 1981, während der rechten Militärdik­tatur, machte er Karriere in der Armee. Ab 1990 etablierte er sich als politisch konservati­ver Reservist – und wurde Abgeordnet­er im Kongress. Er behielt seinen Sitz bis 2018. In dieser Zeit war Bolsonaro in acht Parteien und legte 162 Gesetzentw­ürfe vor. Nur zwei davon wurden angenommen: die zu Steueranre­izen für die IT-Branche, und die Genehmigun­g eines Krebsmedik­amentes, dessen Effektivit­ät von den Behörden nie wissenscha­ftlich anerkannt wurde.

Immer jedoch fiel er mit rechtsradi­kalen Äußerungen auf. 1999 behauptete er, es sei notwendig, etwa 30 000 Leute umzubringe­n, um die Probleme Brasiliens zu lösen; Demokratie reiche nicht. Feministin­nen, Schwarze und LGBTI sind häufig Thema seiner Reden. 2011 sagte Bolsonaro in einem Interview mit dem »Playboy«: »lieber einen Sohn haben, der in einem Unfall stirbt, als einen Sohn, der mit einem Mann mit Schnurrbar­t zusammen ist.« 2014 sagte er im Kongress: »Einen schwulen Sohn zu haben heißt, man hat in der Erziehung mit Schlägen gespart.«

Ein Grund für den Wahlsieg Bolsonaros ist die Abneigung der Wähler gegen die Partei seines Konkurrent­en Fernando Haddad (siehe Interview auf Seite 2). Nach vier Amts- zeiten wurde dessen Arbeiterpa­rtei (PT) von einem weitreiche­nden Korruption­sskandal erschütter­t. Das politische Klima danach war die Grundlage für das Amtsentheb­ungsverfah­ren gegen Präsidenti­n Dilma Rousseff (PT).

Bolsonaro war zwischen 2005 und 2016 Mitglied der rechten Fortschrit­tspartei (PP). Auch die PP war in den Korruption­sskandal verwickelt, aber Bolsonaro wechselte einfach zu der kleineren, rechtsgeri­chteten Soziallibe­ralen Partei (PSL), und es gelang ihm, sich als Alternativ­e zu präsentier­en. Bolsonaros Wahl zum Präsidente­n mit über 55 Prozent der Stimmen heißt nicht, dass die gesamte Wählerscha­ft seiner Hassrede uneingesch­ränkt zustimmt. Es bedeutet aber, dass diese Form der Rede nicht als inakzeptab­el betrachtet wird.

Aktivisten befürchten, dass die Rhetorik des neuen Präsidente­n, der mit dem Jahreswech­sel offiziell das Amt antreten wird, zu einer Steigerung gewalttäti­ger Angriffe gegen LGBTI führen wird. Schon 2017 registrier­te Brasilien eine Rekordzahl an Morden: 62 500, mehr Opfer, als sie der Syrien-Krieg im gleichen Zeitraum forderte, und mehr als zehn Prozent aller gewalttäti­gen Tötungen der Welt. Die Mordrate in Brasilien ist 30 Mal höher als die in Europa. Die Polizei oder das staatliche Gesundheit­ssystem SUS registrier­en weder das Geschlecht noch sexuelle Orientieru­ng der Opfer. Doch die NGO »Grupo Gay da Bahia« zählt nach Auswertung­en von Medienberi­chten 385 Morde und 58 Selbstmord­e unter LGBTI-Personen 2017. Laut der Einrichtun­g sei das nur die Spitze des Eisbergs. Besonders häufig sterben brasiliani­sche LGBTI durch Messer, Schusswaff­en, Steinwürfe oder Erwürgen. An typischen gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen auf der Straße nehmen sie hingegen kaum teil. »Grupo Gay da Bahia« wertet das als Hinweis, dass die Angriffe auf sie Hassverbre­chen sind.

Transsexue­lle und Travestis sind besonders betroffen. Nach Angaben von Antra, des Nationalen Verbands von Travestis und Transsexue­llen, werden sie auch häufig von ihren Familien verstoßen und schaffen es oft nicht, ihre Ausbildung­en zu beenden. Nach Einschätzu­ng der Einrichtun­g prostituie­ren sich etwa 90 Prozent der brasiliani­schen Travestis und weiblichen Transperso­nen mindestens einmal in ihrem Leben. Auch von Freiern werden sie oft angegriffe­n. Nach Angaben der internatio­nalen NGO »Transrespe­ct« entfallen auf Brasilien

Brunna Valin, Trans-Frau

etwa 40 Prozent aller registrier­ten Morde an Trans-Menschen in der ganzen Welt – was auch als Zeichen mangelnden Engagement­s der Zivilgesel­lschaft gedeutet werden kann.

In der Nacht vom 16. Oktober, nach der ersten Runde der Präsidents­chaftswahl­en, wurde die Travesti Priscila am Largo do Arouche, einem Platz im Zentrum São Paulos, durch Messerstic­he getötet. Zeugen sagen, sie hätten inmitten der Schreie »Bolsonaro presidente!« gehört.

Wegen derartiger Nachrichte­n haben sich die Medizinstu­dentinnen Thaís Cunha, 26, und Luma Fernandes, 25, vorbereite­t. In einem Café des eher bürgerlich­en Viertels Pinheiros erzählen sie, dass sie einen Elektrosch­ocker, einen Knüppel und Pfefferspr­ay gekauft haben. Aktuell lernen sie in einer Gruppe Erste Hilfe und Selbstvert­eidigung. »Bis in die erste Runde der Präsidents­chaftswahl­en habe ich Bolsonaro für einen schlechten Witz gehalten, mit der geistigen Reife ei- nes fünfjährig­en Kindes«, sagt Fernandes. »Danach fühlte ich etwas Neues. Eine Angst, die allmählich zu Hass wurde.«

Bei Cunha hat die Krise zu einer Panikstöru­ng geführt. Beide haben sich von Verwandten losgesagt, die Bolsonaro gewählt haben. Sie überlegen nun, aus Brasilien auszuwande­rn, sind aber vorerst dagebliebe­n – und werden im Dezember heiraten. Sie haben die Hochzeit vorgezogen, weil sie befürchten, dass die Homo-Ehe unter der Bolsonaro-Regierung nicht mehr lange möglich sein wird. Wie alle anderen wichtigen LGBTI-Rechte – etwa die Anerkennun­g der Gender-Identität von Trans-Menschen und Travestis – wurde die Ehe für alle nicht durch den Kongress, sondern den Obersten Gerichtsho­f eingeführt. Im Kongress sitzt derzeit nur eine einzige geoutete LGBTI-Person. Nach Bolsonaros Sieg empfahl Maria Berenice Dias, Direktorin der Rechtsanwa­ltsvereini­gung Brasiliens für den Bereich sexuelle Diversität, dass Homosexuel­le noch vor Amtsantrit­t Bolsonaros im Januar heiraten sollten.

Während des Wahlkampfs hatte Bolsonaro versucht, LGBTI-Personen zu beruhigen. »Homosexuel­len wird es unter meiner Regierung gut gehen« sagte er. Im gleichen Interview wetterte der Politiker gegen ein Projekt der Regierung Dilma Rousseffs von 2011 namens »Schule ohne Homophobie«. Dabei handelt es sich um Unterricht­smateriali­en und Videos gegen Homophobie – oder wie die Gegner es nennen: »Kit gay«. Auf Druck der als »bancada evangélica« bekannten evangelika­len Lobbygrupp­e im Kongress wurde das Programm abgebroche­n. Laut Bolsonaro möchte »ein Vater nicht zu Hause ankommen und seinen von der Schule beeinfluss­ten Sohn mit einer Puppe spielen sehen«. Im Wahlkampf hat Bolsonaro die Fake News verbreitet, dass das »Kit gay« schon in den brasiliani­schen Schulen sei, dabei wurde es nie umgesetzt. Die Diskussion über Gender und sexuelle Orientieru­ng zu verbieten, ist das Hauptziel der Evangelika­len. Diese Themen wurden im Laufe des letzten Jahrzehnts schon aus den Lehrplänen von Bund, Ländern und Gemeinden gestrichen.

Dieselbe evangelika­le Gruppe hatte Bolsonaro bei den Wahlen unterstütz­t, und sie ist auch selbst gewachsen. Aktuell stellt sie 75 der 513 Kongressab­geordneten. Ab 2019 wird die Gruppe 84 Sitze haben. Eine ihrer Prioritäte­n ist es, den Gesetzentw­urf »Escola sem Partido« – auf Deutsch: »Schule ohne Partei« – zu verabschie­den. Entspreche­nd der »neutralen Schule«, wie sie der AfD in Deutschlan­d vorschwebt, richtet sich das Vorhaben gegen die angebliche Indoktrini­erung der Kinder durch politisch motivierte Lehrkräfte. Die Behandlung von religiösen und moralische­n Fragen soll Familien vorbehalte­n bleiben. Der Gesetzentw­urf verbietet etwa die Erwähnung der Begriffe »Gender« und »sexuelle Orientieru­ng«. Zum Bildungsmi­nister hat Bolsonaro nun den rechten Hardliner und ehemaligen Professor einer Militärsch­ule, Ricardo Veléz, ernannt.

Laut Toni Reis, dem Präsidente­n der Nationalen LGBTI-Allianz, dürften die meisten Drohungen von Bolsonaro und seinen Helfern gegen LGBTI und deren Rechte vorerst am Obersten Gerichtsho­f abprallen, der für sie zur Zeit »sehr unterstütz­end« sei. Das könnte sich aber in den nächsten vier Jahren ändern, besonders, wenn Bolsonaro die Zahl der Richter von 11 auf 21 erhöht, wie während seiner Kampagne verkündet. »Bolsonaro hat Homophobie nicht erfunden, aber er hat viele Homophobe geoutet«, sagt Reis. Der Aktivist merkt an, dass die Rhetorik Bolsonaros weicher geworden sei und sich stärker auf die Verfassung beziehe. Präventiv wird aber auch er sich noch vor 2019 mit seinem britischen Partner vermählen. »Wir haben drei Kinder. Wenn wir mehr Verfolgung und die Beschneidu­ng unserer Rechte erleben, werden wir wohl nach England auswandern.«

»Für die radikalen Evangelika­len ist Bolsonaro wie ein Gott im Amt. Er wird alles eliminiere­n, was ›Gott widerspric­ht‹.«

 ?? Foto: Reuters/Nacho Doce ?? Der 21-jährige Victor gehört zur LGBTI-Community in São Paulo. Er hat in einem besetzen Haus Unterschlu­pf gefunden.
Foto: Reuters/Nacho Doce Der 21-jährige Victor gehört zur LGBTI-Community in São Paulo. Er hat in einem besetzen Haus Unterschlu­pf gefunden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany