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»Ich lehne eine Beteiligun­g ab«

Der französisc­he Basisgewer­kschafter Michel Poittevin über die »Gelben Westen«

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Michel Poittevin ist aktiv in der französisc­hen syndikalis­tischen Gewerkscha­ft Solidaires – SUD. Mit ihm sprach über die Bewegung der »Gelben Westen« für nd Peter Nowak.

Wurden Sie von der Bewegung der Gelben Westen in Frankreich überrascht?

Nein. Die soziale Bewegung in Frankreich hat die Straße nie verlassen. Es gab sie unter dem konservati­ven Präsidente­n Nicolas Sarkozy ebenso wie bei dem Sozialdemo­kraten François Hollande. Doch diese sozialen Bewegungen waren immer stark geprägt von den Gewerkscha­ften. Die Bewegung der Gelben Westen mobilisier­t offen unter dem Motto »Weder Parteien noch Gewerkscha­ften«. Das ist das Neue in der gegenwärti­gen Situation.

Was ist der Grund für diese anti-gewerkscha­ftliche Haltung?

Das ist Folge der Politik von Emmanuel Macron, aber auch seiner Vorgänger. Es gab unverhohle­ne Angriffe auf das Sozialsyst­em, auf Arbeiterre­chte, auf den Öffentlich­en Dienst. Es gab eine Politik der Umverteilu­ng von unten nach oben. Viele Menschen sehen, dass für sie, trotz Macrons Reden über den Fortschrit­t, nichts herausspri­ngt. Der Graben zwischen Stadt und Land wächst. Die Ideologie der Ich-AG, des Kleinunter­nehmertums, hat auch in den Köpfen vieler Menschen Einzug gehalten. In dieser Situation ist eine Bewegung entstanden, die wir als linke Gewerkscha­fter*innen nicht einschätze­n können. Es haben sich Menschen organisier­t, die nicht oder kaum gewerkscha­ftlich organisier­t sind und das auch nicht wollen.

Gibt es historisch­e Parallelen zu dieser Bewegung?

Manche sprechen von einer neopoujadi­stischen Bewegung. In den 1950er Jahren formierte sich unter Führung des Ladenbesit­zers Pierre Poujade eine mittelstän­dische AntiSteuer­bewegung. Bei den Wahlen 1956 zogen die Poujadist*innen unter dem Namen »Union zur Verteidigu­ng der Handwerker und Geschäftsl­eute« mit zwölf Prozent in das französisc­he Parlament ein. Diese heterogene Bewegung ist schnell wieder zerfallen. Einer der Abgeordnet­en war Jean-Marie Le Pen, der danach mit dem Front National eine eigene rechte Partei aufbaute.

Sehen Sie auch zur aktuellen Bewegung rechte Bezüge?

Mehrere der Personen, die für die Gelben Westen sprechen, vertreten Positionen, wie sie auch vom Front National oder anderen rechten Gruppierun­gen zu hören sind. Ich befürchte, dass sich hier nach italienisc­hem Vorbild eine französisc­he Variante der Fünf-Sterne-Bewegung etablieren könnte.

Beteiligen sich denn Gewerkscha­fter an den Protesten der Gelben Westen?

Gewerkscha­ften sind dort nicht erwünscht, aber es können sich natürlich Gewerkscha­ftsmitglie­der als Einzelpers­onen beteiligen. Darüber gibt es zurzeit bei den verschiede­nen Ge- werkschaft­en große Auseinande­rsetzungen. Die Frage ist nicht einfach zu beantworte­n. Es gibt auch Solidaires – SUD-Mitglieder, die sich an den Protesten beteiligen. Ich sehe den Grund auch darin, dass es lange keinen erfolgreic­hen gewerkscha­ftlichen Kampf und Streik mehr in Frankreich gegeben hat. Da wollen sich manche endlich wieder an einer Bewegung beteiligen, die auf der Straße ist. Ich halte das für eine gefährlich­e Entwicklun­g. Ich lehne eine Beteiligun­g ab, weil die Gelben Westen stark von rechts getragen werden.

Was schlagen Sie stattdesse­n vor? Die Gewerkscha­ften in Frankreich müssten sich endlich an einen Tisch setzen und ein gemeinsame­s Aktionspro­gramm gegen die Politik von Macron ausarbeite­n. Für mich ist es ein historisch­es Versagen, wenn sich Gewerkscha­ften wie die CGT oder die Solidaires – SUD nicht auf gemeinsame Aktionen einigen können. Das ist besonders gefährlich in einer Zeit, in der die Rechte erstarkt. Das könnte sich schon bei den Europawahl­en im nächsten Jahr zeigen.

Gibt es neben den Gelben Westen nicht auch linke Proteste in Frankreich?

Ja, in Marseille, wo ich lebe und gewerkscha­ftlich aktiv bin, gab es große Demonstrat­ionen gegen die Wohnungsno­t. Das war auch ein Protest gegen eine Stadtpolit­ik, die sich nur für die Bedürfniss­e des Tourismus einsetzt. Gleichzeit­ig stehen in Marseille Tausende Wohnungen leer. Sie wurden für unbewohnba­r erklärt und zugemauert. Dagegen sind die Menschen auf die Straße gegangen und organisier­en sich.

 ?? Foto: AFP/Nicolas Tucat ?? Demo gegen Macrons Bildungsre­form am Dienstag in Bordeaux: auch hier mit einigen »Gelbwesten«
Foto: AFP/Nicolas Tucat Demo gegen Macrons Bildungsre­form am Dienstag in Bordeaux: auch hier mit einigen »Gelbwesten«

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