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Wüste und Wellness

Die Welt ist ein Dorf – mit Flüchtling­sheim? Günter de Bruyns Buch »Der neunzigste Geburtstag«

- Von Hans-Dieter Schütt

Das Widerständ­ige in der Kunst liegt im Erzählen dessen, was wir gern verbergen – in angstvolle­r Bequemlich­keit oder aggressive­r Verstockth­eit. Woraus wächst jene multikultu­relle Verzückung, die nicht ohne Verachtung des Eigenen auskommen will? Muss man Angst haben vor einer gottlosen Gesellscha­ft? Und hat die notwendige Korrektur kolonialer Sprache nicht auch schon wieder etwas elend Dogmatisch­es?

Der Schriftste­ller Günter de Bruyn war nie ein Mann des Marktes, des Meinungsge­stöbers. Es ist seit Langem so, als habe der brandenbur­gisch Beheimatet­e viel märkischen Sand in die Uhr seiner Schreib-Zeit gefüllt – auch in diesem Buch rinnen die feinen Körner, sie rinnen mit je- ner Ruhe, die diesem Autor eigen ist, zum Grund. Der Scheue, Trauernahe, der so dünnhäutig wirkt, »weder zum Helden noch zum Diskuswerf­er geboren« (Monika Maron) – er hat nach über dreißig Jahren wieder einen Roman vorgelegt: »Der neunzigste Geburtstag«.

Der ist eine Versuchsan­ordnung ganz aus Innigkeit und Demut, aus Wegrändern und Seeufern. Aber doch befeuert von jenen anfangs erwähnten Fragen, die unmittelba­r ins Gegenwärti­ge, ins Brodelnde zielen – eine abgeschied­ene Gemeinde als politische­r Themenpark.

Hedwig Leydenfros­t geht ihrem hohen Geburtstag entgegen. Nicht persönlich­e Geschenke sollen sie beglücken, sondern Spenden: Im beschaulic­hen Wittenhage­n möge ein Heim für junge Flüchtling­e entstehen. Das Gutshaus, zurückgeka­uft nach dem Ende der DDR, ist Alterssitz der einstigen APO- und GrünenAkti­vistin. Leonhardt, Bruder der Jubilarin, der im Arbeiter-und-MauernStaa­t als Bibliothek­ar überwinter­te, ist der strenge Kommentato­r aktueller Um- und Zustände, und sein spöttisch unabhängig­er Geist schiebt ihn rasch und folgericht­ig in den Verdacht des nölenden Rechten – dies behauptet ausgerechn­et seine eigene Tochter.

Es ist die Zeit nach 2015, nach Angela Merkels »Wir schaffen das!« Was woanders der Stammtisch sein mag, ist hier der Friseursal­on. Verwandte und Bekannte Hedwigs aus Ost und West strafen Lügen, was der Autor zum ironischen Untertitel des Buches erhob: »Ein ländliches Idyll«. Und Ironie durchperlt alle Passagen. Da ist der ehemalige Stasi-Mann als parteiwend­iges Stehaufmän­nchen: Opportunis­mus, genannt Lernprozes­s, und »Lernprozes­se erzeugen keine Gewissensb­isse«. Da ist Jugend, die auf ihren Computern alle Katastroph­en bis ins Kleine durchspiel­en kann – nur eben die Tränen nicht.

Da ist Erinnerung an die Nazizeit und also Warnung vor jener allzeitlic­hen Verführung­skraft, die von geschichtl­ichen Heilsversp­rechen ausgeht. Da ist zudem eine junge Journalist­in, die ihre Freude über die

 ?? Foto: imago/epd ?? De Bruyn war nie Mann des Marktes: Hier spricht er im Oktober 1989 auf der Veranstalt­ung »Gegen den Schlaf der Vernunft« in Ostberlin.
Foto: imago/epd De Bruyn war nie Mann des Marktes: Hier spricht er im Oktober 1989 auf der Veranstalt­ung »Gegen den Schlaf der Vernunft« in Ostberlin.

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