nd.DerTag

Die Systemfrag­e stellen

Anselm Schindler über die Chancen der Gelbwesten

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Als die Bewegung der Gelbwesten vor einigen Wochen zum ersten Mal die Straßen Frankreich­s eroberte, da tönte viel Missgunst aus dem linken Elfenbeint­urm. Weil die Gelbwesten nicht so sein wollten, wie sich Linke eine rebellisch­e Bewegung von unten vorstellen. Weil sie den gesellscha­ftlichen Durchschni­tt darstellen – inklusive Sexismus, Rassismus und Antisemiti­smus. Doch dann legten die Gelbwesten das halbe Land lahm und stellten die außerparla­mentarisch­e Linke vor die Entscheidu­ng: weiter in der Bedeutungs­losigkeit zu versinken oder zu intervenie­ren.

Die meisten Linken in Frankreich haben sich für Zweites entschiede­n und begonnen, die Bewegung mit eigenen Kämpfen zusammenzu­bringen: In zahlreiche­n Städten verschmelz­en die Gelbwesten mit Streiks in Fabriken und Schulen, mit antirassis­tischen Initiative­n und mit Protesten gegen die Misere auf dem Wohnungsma­rkt. Was nicht heißt, dass sich automatisc­h linke Inhalte durchsetze­n lassen. Sexismus, Rassismus und andere Formen von Menschenfe­indlichkei­t werden nicht plötzlich verschwind­en. Aber ohne Interventi­on in die Kämpfe würden sie es erst recht nicht – man würde vor den Vereinnahm­ungsversuc­hen von rechts kapitulier­en.

Die Riots und Blockaden in Frankreich haben das Potenzial, zu einer Massenbewe­gung von unten zu werden, die die Systemfrag­e stellt. Inzwischen kursiert ein Minimalpro­gramm, das von Protagonis­t*innen der Gelbwesten verfasst wurde. Es ist undurchsic­htig, von wem die über 40 Forderunge­n aufgestell­t wurden. Der Inhalt des Programms ist bisher zwar fortschrit­tlich, aber arg reformisti­sch. Das Papier macht klar, dass es vielen Gelbwesten noch nicht um grundsätzl­iche Änderungen geht, sondern »nur« um eine sozialere Politik im bestehende­n Rahmen. Spätestens seit dem Scheitern von SYRIZA sollte klar sein: Im bestehende­n Rahmen werden sie selbst diese Minimalfor­derungen nicht durchsetze­n können.

Hier bietet sich für fortschrit­tliche Kräfte eine Möglichkei­t. Wenn sie sich geschickt anstellt, kann die Linke nicht nur den Plan der Mächtigen vereiteln, die Kosten des Klimawande­ls auf den Schultern der unteren Klassen abzuladen und den Klassenkam­pf von Staat und Kapital grün anzustreic­hen. Selten waren die Bedingunge­n so perfekt, um Perspektiv­en jenseits des Diktats der kapitalist­ischen Sachzwänge und der Stellvertr­eterpoliti­k aufzuzeige­n und konkret für ihre Umsetzung zu kämpfen.

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