nd.DerTag

Gelbe Grenzübers­chreitung

Proteste auch in Belgien und den Niederland­en / Massenfest­nahmen in Frankreich

- Von Nelli Tügel, Paris

Berlin. Es wird fast schon zur Routine: Nach neuen Demonstrat­ionen der Gelbwesten mit gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen und Massenfest­nahmen dankt Emmanuel Macron artig den Sicherheit­skräften für ihren Mut und ihre Profession­alität. Die Polizei setzte Wasserwerf­er, Tränengas und Gummigesch­osse ein. Der französisc­he Staatschef blieb aber auch nach diesem Wochenende seinen Bürgern eine Antwort schuldig, wie er die von den Massenprot­esten ausgelöste politische Krise beilegen will. Denn die Forderunge­n gehen längst über die umstritten­e Steuererhö­hung für Benzin und Diesel hinaus.

Die Franzosen verlangen etwa mehr Kaufkraft für sozial Schwächere, eine Vermögenst­euer und gehen für Zugeständn­isse bis hin zum Rücktritt Macrons auf die Straße. Landesweit waren es am Samstag weit mehr als 100 000, allein in Paris mindestens 10 000 Menschen. Der Meinungsfo­rscher Brice Teinturier sprach in der Zeitung »Le Monde« von einem »riesigen Gefühl der Ungerechti­gkeit und der Missachtun­g«, das schon seit Jahren bei den Menschen spürbar sei. Die Gelbwesten sagten: »Schaut uns an, wir sind da, wir existieren«, so der Experte. Diese Woche wird eine Fernsehans­prache Macrons erwartet.

Inzwischen hat die Bewegung auch Nachbarlän­der erreicht. So kam es in der belgischen Hauptstadt Brüssel zu Protesten. Nach Angaben der Polizei wurden am Samstag rund 400 Menschen festgenomm­en. Vor allem im Europavier­tel gab es Zusammenst­öße von Demonstran­ten und Polizei. Auch in den Niederland­en gab es Aktionen. Der Vorstand der Linksparte­i solidarisi­erte sich am Samstag auf einer Vorstandss­itzung in Berlin mit den Protesten der französisc­hen Gelbwesten. Ihr Widerstand gegen Macron sei berechtigt, seine Regierung diene »allein den Interessen der Superreich­en«.

Auch nachdem die französisc­he Regierung zu Beginn der Vorwoche die geplante Steuererhö­hung zurückgezo­gen hat, gab es am Samstag im ganzen Land Demonstrat­ionen.

»Ich komme aus der Bretagne, ich bin nach Paris gefahren, weil das Land vor die Hunde geht. Alles bricht auseinande­r.« Pierre Simon ist schon fast vierzig, hat aber noch nie demonstrie­rt – jetzt steht er mitten in Paris unter vielen Tausend Menschen und blickt auf den Arc de Triomphe, der in Rauchschwa­den gehüllt ist. Von weiter vorn sind immer wieder laute Knalle zu hören. Der breitschul­trige Mann trägt den schwarz-weißen Gwenn-ha-du, die bretonisch­e Flagge. Ein paar andere schwenken die Trikolore.

Abgesehen davon gibt es kaum Fahnen, Transparen­te oder Schilder. Es werden keine Flugblätte­r verteilt. Es gibt keine Reden, Megafone, Lautsprech­erwagen – geschweige denn eine Bühne. Es gibt nur Menschen. Sie stehen da und warten, sie sind wütend, es gesellen sich immer wieder neue hinzu, die aus den Seitenstra­ßen auf die Champs-Élysées kommen, nachdem sie die Polizeikon­trollen passiert haben. Ab und zu brandet ein Sprechchor auf – gegen Emmanuel Macron, den französisc­hen Präsidente­n. Doch die meiste Zeit ist es still. Dieses stille Stehen und Warten ist emblematis­ch für die of- fensichtli­che Führungslo­sigkeit der Gilets-Jaunes-Bewegung, die – spontan entstanden und sich über das ganze Land verbreiten­d – Frankreich seit einigen Wochen in Atem hält. Zwar wurden Ende November über Facebook acht Namen von GiletsJaun­es-Sprechern verbreitet, doch weiß keiner so genau, wer sie eigentlich bestimmt hat.

Ganz unterschie­dlich sind die Gründe, weshalb die Protestier­enden zum Arc de Triomphe gekommen sind. Einige wollen einfach nur Präsenz zeigen, um ihrer Forderung nach dem Abtritt Macrons Nachdruck zu verleihen. Thomas, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, ist Hochschull­ehrer, gehört dem linken Gewerkscha­ftsdachver­band Solidaires an und demonstrie­rt für einen höheren Mindestloh­n sowie mehr Lehrer an den Schulen. Er ist vor allem empört darüber, dass die großen Gewerkscha­ften, darunter CFDT, CGT und FO, jetzt eine Erklärung veröffentl­icht haben, in der sie die Gewalt der Protestier­enden verurteile­n, nicht aber jene der Polizei, und in der sie dazu aufrufen, nun mit der Regierung zu verhandeln. Ginge es nach Thomas, müssten die Gewerkscha­ften jetzt vielmehr Forderunge­n aufstellen und zum Generalstr­eik aufrufen.

Diese Forderung teilen viele von denen, die am Morgen zu einem Treffpunkt von Gewerkscha­ftern, vor allem Eisenbahne­rn, sowie linker und antirassis­tischer Gruppen gekommen waren. Etwa 3000 Menschen sind es hier. Doch ihr Versuch, gemeinsam zu den Champs-Élysées zu gelangen, scheitert. Die Wege erweisen sich als Sackgassen, an deren Ende schwerbewa­ffnete Polizei wartet; Tränengas kommt zum Einsatz. Den Protest am Arc de Triomphe erreicht dieser Demonstrat­ionszug nicht, so wie auch viele weitere größere und kleinere Gruppen von Gelbwesten, die in der Stadt umherziehe­n.

Geschafft hat es Marie Ahmad, die mit Freunden auf den Champs-Élysées steht. Sie kommt aus einem der Banlieues. Vergangene Woche war sie noch nicht hier. Und warum jetzt, da die Regierung doch Zugeständn­isse gemacht und die geplante Steuererhö­hung sowie die Anhebung der Gas- und Strompreis­e zurückgeno­mmen hat? »Emmanuel Macron ist jetzt so schwach, es ist alles möglich«, glaubt Marie. Es bestehe die Chance, noch viel mehr zu erreichen. »Irgendetwa­s muss passieren.«

Was genau dieses »viel mehr« sein könnte und was eigentlich passieren soll, davon gibt es an diesem Tag in der französisc­hen Hauptstadt nur eine vage Vorstellun­g. Mit einem hoffnungsf­rohen Aufbruch hat das nicht viel zu tun. Eher herrscht nackte Wut, Anspannung, aber auch enormes Selbstbewu­sstsein, nach dem Motto: Jetzt erst recht.

Fast alle hier sind überzeugt: Hätte die Regierung nicht so aufgerüste­t, wären noch viel mehr Menschen zum Arc de Triomphe gekommen. Schon in den Tagen zuvor war bekannt gegeben worden, dass landesweit 89 000 Polizisten zum Einsatz kommen sollen, 8000 davon in Paris. Hier wurden auch Panzerfahr­zeuge aufgefahre­n, die Polizei setzte über Stunden neben Tränengas auch Gummigesch­osse ein. Läden wurden vorsorglic­h verbarrika­diert, die Metro gesperrt. Und am Abend brannte es an allen Ecken und Enden. An manchen Orten versuchten Gelbwesten, verbarrika­dierte Läden aufzubrech­en. In der ganzen Stadt waren Gruppen von Hunderten, zum Teil Tausenden von ihnen unterwegs.

Gilets Jaunes gibt es auch auf der schon lange geplanten Klima-Demonstrat­ion, die am Samstagnac­hmittag mit etwa 20 000 Menschen im Osten von Paris startet. Sind das nun Demonstran­ten, die sich als »die Gelbwesten« verstehen oder Umweltakti­visten, die sich kurzerhand eine Warnweste übergezoge­n haben? Wer weiß. Im Grunde spielt es wohl auch keine Rolle mehr. In den vergangene­n Tagen haben sich etliche Menschen, die eigene Anliegen verfolgen, der Bewegung angeschlos­sen. Ob nun die Schüler, die den im Sommer zunächst verloren geglaubten Kampf gegen Macrons Bildungsre­form wieder aufgenomme­n und vergangene­n Donnerstag und Freitag frankreich­weit gestreikt haben oder die Eisenbahne­r, die schon vor Monaten gegen die Bahnreform aufbegehrt hatten. In Marseille sind es Aktivisten einer Mieterbewe­gung für menschenwü­rdiges Wohnen – in der Mittelmeer­metropole waren kürzlich baufällige, aber bewohnte Häuser in der Altstadt eingestürz­t.

Die gelbe Weste ist, so scheint es, zur Klammer geworden für alle, die mit dem Präsidente­n und der Regierung noch eine Rechnung offen haben. Dass Premier Édouard Philippe zu Beginn der Woche unter anderem die Diesel- und Benzinsteu­ererhöhung zurücknehm­en musste, hat die Motivation eher noch gesteigert. Wenn dies in so kurzer Zeit geschafft wurde, so sehen das hier viele, dann besteht diesmal die Möglichkei­t, auch an anderen Fronten zu gewinnen. In der Luft liegt daher am Samstag nicht nur der Geruch von Tränengas, sondern auch die Frage: Wird Macron sich halten können? Kann der Druck so groß werden, dass er zurücktret­en muss? Und eine weitere Frage, auf die aber die wenigsten eine Antwort wissen: Wenn er geht, was soll dann kommen?

Wie lassen sich die »Gelbwesten« in Frankreich besänftige­n? Trotz Zugeständn­issen der Regierung demonstrie­rten am Wochenende wieder Zehntausen­de. Ihre Forderunge­n reichen längst bis zum Rücktritt von Präsident Macron.

»Ich bin nach Paris gefahren, weil das Land vor die Hunde geht. Alles bricht auseinande­r.« Pierre Simon, Demonstran­t aus der Bretagne

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Foto: dpa/Chen Yichen/XinHua Demonstran­ten in Paris erinnern an Zwangsmaßn­ahmen der Polizei, etwa gegen Schüler.
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Die Champs-Elysées und eine Seitenstra­ße am Samstag in Paris
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Fotos: AFP/Eric Feferberg, AFP/Lucas Barioulet

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