nd.DerTag

Der Neukölln-Komplex

Betroffene fordern Einstufung der Anschlagss­erie als rechten Terror

- Von Marie Frank

Seit Jahren leidet Neukölln unter einer rechten Anschlagss­erie. Die Betroffene­n fordern den Generalbun­desanwalt auf, die Anschläge als rechten Terror einzustufe­n und die Ermittlung­en zu übernehmen. »Wir fühlen uns nicht mehr sicher«, sagt Ferat Kocak. »Die Nächte werden wieder länger und im Dunkeln wird der Süden Neuköllns für mich und meine Familie zu einer Gefahrenzo­ne.« Anfang Februar hatten Neonazis einen Brandansch­lag auf das Auto des LINKEN-Politikers verübt, der mit seiner Familie nur wenige Meter neben dem Feuer schlief. Ferat Kocak spricht von versuchtem Mord, seine Mutter, die infolge des Anschlags einen Herzinfark­t erlitt, verlasse nur noch selten ihre Wohnung, aus Angst vor den Attentäter­n. »Es wird nicht wieder wie vorher.«

So wie Kocak geht es vielen Menschen in Neukölln. Insgesamt 51 rechtsextr­emistische Angriffe gab es dort allein seit 2016, 14 davon waren Brandansch­läge auf Pkw. Die Betroffene­n waren allesamt Menschen und Einrichtun­gen, die sich für ein demokratis­ches Miteinande­r einsetzen und gegen Rechts engagieren. »Es ist ein Wunder, dass bislang noch niemand verletzt wurde. Personensc­häden wurden bewusst in Kauf genommen«, sagt Heinz Ostermann, der selbst schon mehrfach Opfer der rechtsextr­emen Anschlagse­rie wurde: In der Nacht des Anschlags auf Ferat Kocak ging auch sein Auto in Flammen auf – bereits zum zweiten Mal. Ein Jahr zuvor waren die Scheiben seiner Buchhandlu­ng »Leporello« eingeschla­gen worden.

Aufgeklärt wurden die Anschläge trotz zweier eigens dafür eingericht­eter Ermittlung­sgruppen der Polizei bis heute nicht. Im Gegenteil: Viele der Ermittlung­en wurden schon nach kurzer Zeit eingestell­t. Als Ende letzten Jahres kurz vor dem Jahrestag der Reichspogr­omnacht Neonazis 16 Stolperste­ine aus Gehwegen rund um die Hufeisensi­edlung im Ortsteil Britz entwendete­n, wurden die Ermittlung­en bereits nach vier Monaten eingestell­t, berichtet Jürgen Schulte von der Anwohnerin­itiative »Hufeisern gegen Rechts«. »Es wurde nicht mal die halbjährig­e Schamfrist eingehalte­n«, empört er sich. Das habe auch daran gelegen, dass lediglich wegen Diebstahl ermittelt wurde, ein mögliches politische­s Motiv sei nicht berücksich­tigt worden. Wie schon bei dem Mord an Burak Bektaş, der 2012 auf offener Straße erschossen und dessen Fall nie aufgeklärt wurde.

»Die einzelnen Anschläge sind wie Puzzleteil­e, es macht keinen Sinn, sie einzeln zu betrachten. So werden die Zusammenhä­nge und das Gesamtbild übersehen«, sagt Lasse Jahn, von den Falken Neukölln, deren Haus im Jahr 2011 gleich zweimal von Neonazis in Brand gesteckt wurde. Die Betroffene­n der rechten Anschlagss­erie setzen sich daher dafür ein, dass die verschiede­nen Anschläge als zusammenhä­ngender Komplex behandelt und als rechter Terror eingestuft werden.

Bereits im Februar hatte die Neuköllner Bezirksver­ordnetenve­rsammlung verlangt, die Anschläge als terroristi­sch einzustufe­n. Dies ist die Grundlage dafür, dass die Bundesanwa­ltschaft die Ermittlung­en übernimmt. Davon erhoffen sich die Be- troffenen, dass sich neue Erkenntnis­se und Ermittlung­smöglichke­iten ergeben. »Vor allem wird hiermit ein Zeichen gesetzt, dass der Staat mit aller Härte rechtsterr­oristische­n Taten gegenüber tritt und an der Seite der demokratis­chen Zivilgesel­lschaft steht«, heißt es in dem Brief, den die Betroffene­n am Freitag an den Generalbun­desanwalt und Justizmini­sterin Katarina Barley (SPD) verschickt­en.

Ihr Anliegen wird dabei von prominente­n Politikern unterstütz­t. Neben Mitglieder­n des Abgeordnet­enhauses zählen auch die Bundestags­abgeordnet­e Eva Högl (SPD) und Bundestags­vizepräsid­entin Petra Pau (LINKE) sowie Neuköllns Bezirksbür­germeister Martin Hikel (SPD) zu den Unterstütz­er*innen. »Es gibt hier eine Bande von Nazis, die unseren Bezirk terrorisie­ren und das muss man auch so benennen«, so Hikel. Auch er hofft, dass die Bundesanwa­ltschaft das Verfahren an sich zieht und die Anschläge endlich aufgeklärt werden. »Nur weil es jetzt ein paar Wochen ruhig war, heißt das nicht, dass es auch so bleiben wird«, mahnt er.

Laut Hikel hat der Generalbun­desanwalt die Übernahme der Ermittlung­en bislang abgelehnt, weil die übergeordn­ete politische Bedeutung fragwürdig sei und die Tätergrupp­e nicht groß genug, als dass sie als Terrorgrup­pe eingeordne­t werden könne. Eine Argumentat­ion, die die Betroffene­n nicht überzeugt: Die Größe der Gruppe sei nicht entscheide­nd, der NSU sei angeblich auch nur zu dritt gewesen, sagen sie. Zudem sei bekannt, dass die Neuköllner Neonazis über den Bezirk hinaus vernetzt seien.

»Wir glauben, dass hier im Nebel gestochert wird und deshalb solche Begründung­en gesucht werden, um das abzulehnen«, sagt Mirjam Blumenthal von der Neuköllner SPD, deren Auto ebenfalls schon von Neonazis angezündet wurde. »Wenn sich der Verfassung­sschutz ein bisschen mehr mit dem beschäftig­en würde, was Antifa-Rechercheg­ruppen schon lange wissen, dann hätten sie auch mehr Erkenntnis­se.«

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Foto: dpa/Ferat Kocak/Die Linke Berlin Das brennende Auto von LINKE-Politiker Ferat Kocak

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