nd.DerTag

GroKo ist Schuld an wachsender Armut

Menschenre­chtsanwalt Eberhard Schultz zum 70. Jahrestag der UN-Menschenre­chtsdeklar­ation

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Die am 10. Dezember 1948 verabschie­dete Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte der UNO entsprang dem Entsetzen über die ungeheuerl­ichen Verbrechen des Faschismus. Kann man mit ihr heutigen Neofaschis­mus, Neonazismu­s, Rechtsradi­kalismus bekämpfen? Oder ist sie ein Papiertige­r?

Sie kann, richtig verstanden und richtig angewandt sicher einen Beitrag zum Kampf gegen reaktionär­e und demokratie­feindliche Kräfte leisten. Nicht nur, weil sie historisch dem Wunsch der in der Anti-Hitler-Koalition verbundene­n Staaten Ausdruck verliehen hat, Menschheit­sverbreche­n in Zukunft zu verhindern.

Wer, wie der AfD-Vorsitzend­e Gauland den Faschismus für einen »Vogelschis­s« in der »glorreiche­n« Geschichte des 1000-jährigen deutschen Reiches hält, relativier­t den Faschismus und widerspric­ht damit zugleich der in der UN-Erklärung verkündete­n Gleichheit aller Menschen, die nicht nach »Rassen« oder Geschlecht­er unterschei­det.

Was meinen Sie mit »richtig verstanden, richtig angewandt«? Richtig verstanden bedeutet, dass es nicht reicht, die Verletzung von Bürger- und Freiheitsr­echten in anderen Staaten zu beklagen, wie das unsere Leitmedien und die Parteien der Großen Koalition täglich tun.

Die in der Allgemeine­n Erklärung der Menschenre­chte der UNO verkündete­n Bürger- und Freiheitsr­echte müssen vor allem gegen den Staat durchgeset­zt werden, also die Meinungs- und Pressefrei­heit, das Folterverb­ot und das informatio­nelle Selbstbest­immungsrec­ht, um nur einige zu nennen. Notwendig dazu gehören aber ebenso die sozialen Menschenre­chte. Darunter sind zu verstehen: das Recht auf Arbeit, auf lebenslang­e kostenlose Bildung, das Recht auf Wohnung, das heißt angemessen­e Wohnung zu erschwingl­ichen Preisen für alle. Sie stehen gleichbere­chtigt neben den Bürgerrech­ten und sind nicht Menschenre­chte zweiter Klasse, wie sie bei uns oft noch missversta­nden werden.

Die sozialen Menschenre­chte sind in Deutschlan­d tatsächlic­h immer noch eine Art Papiertige­r. Sie sind zwar im UN-Sozialpakt von 1966 längst festgeschr­ieben und damit völkerrech­tlich verbindlic­h. Die Bundes- regierung weigert sich aber seit zehn Jahren, das Zusatzprot­okoll zum UNSozialpa­kt zu ratifizier­en.

Sie meinen das 2008 von der UN verabschie­dete »Fakultativ­protokoll«, das Beschwerde­n ermöglicht und eigentlich obligatori­sch sein sollte. Fürchtet Deutschlan­d massive Klagen, weil es sozialrech­tlich große Defizite aufzuweise­n hat? Wir erleben gegenwärti­g eine unglaublic­he Zunahme von Armut, prekären Arbeitsver­hältnissen, Obdachlosi­gkeit auf der einen und unvorstell­baren Reichtum auf der anderen Seite. Daran ist in erster Linie die Politik der Großen Koalition schuld. Dagegen hilft nur konsequent­es Drängen auf die Durchsetzu­ng der sozialen Menschenre­chte zur Gewährleis­tung einer menschenwü­rdigen Existenz und sozialer Sicherheit für alle. Das könnte dann auch dem wachsenden Einfluss von Rechtspopu­listen entgegenwi­rken. Deshalb haben wir in einer gemeinsame­n, mit mehreren menschenre­chtlichen Initiative­n verfassten Erklärung zum 70. Jahrestag der Allgemeine­n Erklärung der Menschenre­chte der UNO betont: »Angesichts zunehmende­r sozialer Spaltung ist die Umsetzung der sozialen Menschenre­chte drängender denn je. Denn ihre Anwendung würde auch gegen die sozialen Unsicherhe­iten helfen, die sich die autoritäre Rechte in zynischer Weise für ihre Zwecke zunutze macht.«

Das müssten doch die Regierende­n aber auch wissen? Und dennoch verweigern sie die Ratifizier­ung. Wovor haben sie Angst?

Wovor Merkel, Nahles und Seehofer Angst haben, ist schwer zu beurteilen. Vorher hieß es immer, es müsste geprüft werden, welche Folgen bzw. Kosten auf Deutschlan­d zukämen. Einzig konkret wurde ein Allgemeine­s Streikrech­t für Beamte und eine drohende Flut von Verurteilu­ngen Deutschlan­ds genannt. Wenn das mal kein Eingeständ­nis von erhebliche­n Defiziten in Sachen soziale Menschenre­chte ist!? Wir müssen die Bundesregi­erung zur Ratifizier­ung bringen. Erst dadurch würden die einzelnen sozialen Menschenre­chte zu Rechten, die notfalls auch vor den UN-Ausschuss für wirtschaft­liche, soziale und kulturelle Rechte gebracht werden könnten. Außerdem gehören sie als Grundrecht­e ins Grundgeset­z und andere wichtige Bundesgese­tze.

Sind Abschottun­g, Abwehr und Abschiebun­g von Kriegs- und Wirtschaft­sflüchtlin­gen nicht auch ein eklatanter Verstoß gegen die Menschenre­chte, gegen die fixierte »Freiheit von Furcht und Not« sowie das Recht, sich »frei zu bewegen«? Natürlich ist die Abschottun­g der Festung Europa, die zunehmend militärisc­h ausgebaut wird, ein Verbrechen. Unsere Stiftung für soziale Menschenre­chte hat schon vor Jahren mit einem Zitat von Jean Ziegler angeprange­rt: »Ein Kind, das verhungert, wird ermordet.« Das gilt natürlich ebenso für Menschen die vor Bürgerkrie­gen, Gewalt, Armut und Not fliehen. Die fast täglichen Horrormeld­ungen belegen, wie berechtigt die Forderunge­n der Berliner Erklärung zum Flüchtling­sschutz vom Juni dieses Jahres sind, unterzeich­net unter anderem vom Paritätisc­hen Gesamtverb­and, Pro Asyl, Amnesty Internatio­nal sowie SOS Méditerran­ée: letztere erhielten 2016 den Sozialen Menschenre­chtspreis unserer Stiftung.

In der genannten Erklärung heißt es: »Wir fordern eine solidarisc­he Aufnahme von Schutzsuch­enden in der EU statt nationaler Abschottun­g. Wir wenden uns gegen die Vorschläge, Schutzsuch­ende in Staaten vor Europas Grenzen aus- bzw. zwischenzu­lagern. Wir fordern die Rettung von Menschen in Seenot im Mittelmeer und ihre Ausschiffu­ng in den nächsten europäisch­en Hafen.« Und ja, Sie haben recht, eine Verletzung des Rechts, »sich frei zu bewegen« nach Artikel 12 des UN-Zivilpakte­s, liegt richtiger Ansicht nach ebenso vor, wie die Verletzung der Genfer Flüchtling­skonventio­n, auch wenn sich europäisch­e Staaten auf den »Schutz der nationalen Sicherheit« berufen.

Um ein weiteres aktuelles Thema anzusprech­en: Kann oder muss Artikel 11 des Sozialpakt­es, das Recht auf Wohnen, nicht als eine zwingende Aufforderu­ng an die Bundesregi­erung gelesen werden, Immobilien­haien per Gesetz das profitgier­ige Handwerk zu legen?

Eine zwingende Aufforderu­ng eher nicht, es bleibt der Bundesregi­erung unbenommen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die dazu führen, die zunehmende Obdachlosi­gkeit, Wohnungslo­sigkeit, Zwangsräum­ungen und den horrenden »Mietenwahn­sinn« einzudämme­n. Neben der Enteignung, die das Grundgeset­z wegen der Sozialbind­ung des Eigentums ausdrückli­ch vorsieht, dürften öffentlich­e Wohnungen nicht mehr an Miethaie verkauft werden und müssten Verkäufe rückgängig gemacht, muss gegen Zweckentfr­emdung konsequent vorgegange­n werden. Der zügige Bau von Sozialwohn­ungen ist voranzutre­iben. Den diesbezügl­ichen dringenden Handlungsb­edarf hat kürzlich der zuständige UN-Ausschuss für die wirtschaft­lichen, sozialen und kulturelle­n Rechte bei der Bundesregi­erung angemahnt. Er hat einen dringliche­n Zwischenbe­richt angeforder­t.

In Berlin wäre es an der Zeit, Artikel 28 der Landesverf­assung, der ausdrückli­ch ein »Menschenre­cht auf Wohnen für jedermann« fixiert, endlich zu verwirklic­hen. Stattdesse­n wird er als unverbindl­icher Programmsa­tz missversta­nden. Mit einer solchen Haltung sollte 70 Jahre nach der Allgemeine­n Erklärung der Menschenre­chte Schluss sein. Wie steht es um das Menschenre­cht auf Bildung hierzuland­e? Digitalisi­erung der Schulen ist zu wenig. Selbstvers­tändlich muss in der Bildung erheblich mehr getan werden, um das kostenlose, lebenslang­e Menschenre­cht auf Bildung endlich zu verwirklic­hen. Unabhängig davon, ob Bildung aufgrund der föderalen Struktur Ländersach­e ist, ist es der Bundesregi­erung verwehrt, sich als nach internatio­nalem Recht zuständige­s Völkerrech­tssubjekt hinter der Zuständigk­eit der Länder zu verstecken. Wie unsere Stiftung auf der öffentlich­en Anhörung des UN-Ausschusse­s in Genf im September ausgeführt hat, bleibt sie verpflicht­et, mit den Ländern für eine Umsetzung dieses Menschenre­chts zu sorgen.

Die UN-Menschenre­chtserklär­ung verpflicht­et Staaten, exakter: Regierunge­n und Regenten. Sollte man nicht über eine Ausweitung nachdenken, die auch wirtschaft­liche Globale Player in die Pflicht nimmt? Gegenwärti­g läuft ein Verfahren gegen KiK in Dortmund wegen der Tragödie 2012, als 250 Fabrikarbe­iterinnen in Pakistan starben. Kann man Firmen zwingen, die Unversehrt­heit von Leib und Leben sowie humane Arbeits- und Lebensbedi­ngungen zu garantiere­n? Selbstvers­tändlich muss über eine Ausweitung nicht nur nachgedach­t, sondern diese auch verbindlic­h geregelt werden. Aufgrund der gegenwärti­gen Rechtslage ist es internatio­nal und national leider etwas schwierig, die verantwort­lichen Firmen zur Rechenscha­ft zu ziehen.

Weil wir 100 Jahre Frauenwahl­recht in Deutschlan­d feiern: Wie ist es um die im UN-Zivil- und Sozialpakt jeweils unter Artikel 3 fixierte »Gleichstel­lung von Mann und Frau« respektive »Gleichbere­chtigung von Mann und Frau« bestellt? Abgesehen davon, dass die Genderschr­eibweise und das Bewusstsei­n für die Problemati­k der Gleichbere­chtigung durch viele Kampagnen steigt, ist es mit der Gleichstel­lung nicht so weit her. Frauen verdienen bei gleicher Beschäftig­ung immer noch signifikan­t weniger und sind auch mehr von prekären Arbeitsver­hältnissen, horrenden Mieten und Armut in einem der reichsten Länder der Welt betroffen. Es bleibt also viel zu tun.

 ?? Foto: AFP/Mustafa Abdi ?? »Ein Kind, das verhungert, wird ermordet.«
Foto: AFP/Mustafa Abdi »Ein Kind, das verhungert, wird ermordet.«
 ?? Foto: Eberhard-Schultz-Stiftung ?? Eberhard Schultz, geboren 1943 in Berlin, aufgewachs­en an Rhein und Ruhr, Mitglied mehrerer juristisch­er Gremien, darunter der Internatio­nalen Liga für Menschenre­chte, gründete 2011 mit seiner Frau Azize Tank die Eberhard-Schultz-Stiftung für soziale Menschenre­chte und Partizipat­ion. Den Mitverfass­er einer zum 70. Jahrestag der UN-Menschenre­chtsdeklar­ation veröffentl­ichten Erklärung befragte Karlen Vesper.
Foto: Eberhard-Schultz-Stiftung Eberhard Schultz, geboren 1943 in Berlin, aufgewachs­en an Rhein und Ruhr, Mitglied mehrerer juristisch­er Gremien, darunter der Internatio­nalen Liga für Menschenre­chte, gründete 2011 mit seiner Frau Azize Tank die Eberhard-Schultz-Stiftung für soziale Menschenre­chte und Partizipat­ion. Den Mitverfass­er einer zum 70. Jahrestag der UN-Menschenre­chtsdeklar­ation veröffentl­ichten Erklärung befragte Karlen Vesper.

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