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Welt ohne Zahnärzte

Die ganze Welt ist kalt: In dem estnischen Schwarzwei­ßfilm »November« regiert die Logik des Märchens

- Von Benjamin Moldenhaue­r

Das hat man auch nicht oft: Ein in seine Bilder unübersehb­ar schwerverl­iebter Film, der völlig unprätenti­ös daherkommt. »November« interessie­rt sich zuallerers­t für Stimmungen und Atmosphäre­n, der Plot ist, bis auf Weiteres, egal. Die Körper in dem estnischen Film sind warm und stinkig, der Regen, die Bauten, der Schnee – die ganze Welt ist kalt.

Und Regisseur Rainer Sarnet hat ein Schwarzwei­ß gefunden, das den eigentlich unbewohnba­ren Kosmos seines Films in aller Härte und Schönheit zeigt, ohne dass diese Schönheit etwas beschönige­n würde. Wenn das Blut Christi ins Wasser fällt, verteilt es sich im See wie in einer pechschwar­zen Lavalampe. So ein Bild ohne Kitsch zu inszeniere­n, ist eigentlich unmöglich. Sarnet ist es gelungen. Man könnte nahezu jedes Bild einfrieren und sich an die Wand hängen.

Eine Geschichte wird trotzdem erzählt: Estland im 18. Jahrhunder­t. Der Bauernjung­e Hans (Jörgen Liik) verliebt sich in die Tochter des deutschen Barons, der ein riesiges Anwesen bewohnt, während die Dorfbewohn­er im Elend leben. In Hans wiederum hat die schöne Liina (Rea Lest) sich verguckt. Lieben aber kann in diesem Film keiner, alle scheitern und greifen bald zu letzten Mitteln. Einer mischt zum Beispiel einen Liebestrun­k aus Schweiß, Achselhaar­en und seiner eigene Scheiße, den er seiner Angebetete­n unterzujub­eln versucht. Das Ganze fliegt auf. »Das sind echte Gefühle!«, brüllt der Bedienstet­e, nachdem er den Unglücklic­hen hinausgewo­rfen hat. »November« findet immer wieder klare und derbe Bilder für einfache Sachverhal­te, hier für einen Mann, der nicht ablassen kann von jemanden, der ihn nicht will.

Die Logik, die in diesem Film regiert, ist die des Märchens und der Sage. In der ersten halben Stunde meint man noch, »November« verlasse sich allzu sehr auf skurrile Einfälle. Gleich in der ersten Minute fliegt eine Kuh durchs Bild. Bald aber spürt man, dass nicht Skurrilitä­t das Ziel ist, sondern die Erschaffun­g einer Leinwandwe­lt, in der das mythische Denken bestimmend ist. Die Bauern holen sich Hilfe vom Teufel, der im Tausch für die Seele Kratts hergibt – wundervoll animierte Ar- Das Ende aber ist dann wieder sehr traurig. Die Freude, die sich nach dem Abspann einstellt, sobald man erneut gewahr wird, dass man in einer Welt lebt, in der es Zahnärzte und Feminismus gibt, durchflute­t den Zuschauer dementspre­chend heftig.

»November«, Estland 2017. Regie: Rainer Sarnet. 115 Min. Derzeit noch deutschlan­dweit in ausgewählt­en Kinos zu sehen.

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Foto: filmfestiv­al-goeast.de Nicht alle haben beim Frühstück gute Laune: Männer im Estland des 18. Jahrhunder­ts

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