Utopien sind Handarbeit
Ein Sammelband spürt den konkreten utopischen Potenzialen der Bewegungslinken nach
Auf eine bessere Zukunft muss im Hier und Jetzt hingearbeitet werden. Wie? Das wollen die Autor*nnen des Bandes »Konkrete Utopien« aufzeigen.
Angesichts aktueller rassistischer Mobilisierungen, einer brutalen Räumung im Hambacher Forst und nachhaltiger Repressionen gegen linke Strukturen im Nachklapp zum Hamburger G20-Gipfel dürfte es vielen Linksradikalen schwer fallen, von Utopien zu sprechen. Oder ist utopisches Begehren im Sinn einer emanzipatorischen Perspektive genau in diesem Moment für die außerparlamentarische radikale Linke nötiger denn je? Wofür sollen auch all die Kämpfe gut sein, wenn nicht um irgendwann etwas anderes mitzuerschaffen als die dystopische Realität, die uns umgibt?
Aktuell erfreuen sich Utopien in der Linken einer gewissen Beliebtheit, wenn auch die Kritik am Bestehenden traditionsgemäß immer im Vordergrund steht. Wo es in der Be- wegungslinken Anknüpfungspunkte für konkrete utopische Interventionen oder Potenziale gibt, lotet der Sammelband »Konkrete Utopien – Unsere Alternativen zum Nationalismus« aus. Wobei die Abgrenzung zum Nationalismus im Titel in den 21 Texten weit weniger eine Rolle spielt als die Frage, wie sich in der alltäglichen politischen Praxis utopische Potenziale gestalten lassen. Dabei geht es nicht um große utopische Blaupausen für die Zukunft, sondern um kleinteilige Schritte, die konkret im Hier und Jetzt wenn auch nur ein Stück weit Utopien möglich machen sollen. Es geht um die Utopie als »Triebfeder des politischen Willens«, wie es in einem Text heißt.
»Viele der hier versammelten utopischen Ansätze sind an Gelegenheitsstrukturen gebunden. Ohne Pflegenotstand, Umweltzerstörung und Klimawandel dürften Care-Revolution, Kommende Nachhaltigkeit und Postwachstum kaum auf akademische und aktivistische Resonanz stoßen. Ohne Grenzregime und Gentrifizierung keine No-Border- oder Recht-auf-StadtBewegungen.«, schreibt Herausgeber Alexander Neupert-Doppler in seinem Vorwort. Insofern sind krisenhafte oder dystopische Momente auch durchaus Vorbedingungen für eine Beschäftigung mit Utopie.
Über diesen funktionalen Utopiebegriff und wie er für eine politische Linke praktisch nutzbar gemacht werden kann, hat Alexander Neupert-Doppler bereits vor einigen Jahren in seinem Buch »Utopie – vom Roman zur Denkfigur« in der theorie.org-Reihe geschrieben. Der jetzt erschienene Band »Konkrete Utopien« buchstabiert sozusagen in Anlehnung an Ernst Blochs Begriff der »konkreten Utopie« noch einmal in verschiedenen Texten diesen Anspruch aus, politische Praxis mit Vorstellungen von Utopie und den darin schlummernden Potenzialen zu verknüpfen. Es geht also um das Machbare im bewegungslinken Alltag, und das kann unter Umständen Perspektiven einer neuen Welt aufzeigen. Denn »jede verhinderte Abschiebung erneuert das Versprechen auf eine Welt ohne Grenzen.«, wie Bini Adamczak im einleitenden Gespräch mit dem Herausgeber treffend sagt.
Dabei gibt es durchaus einen Spagat, den alle Autor*innen in ihren Texten machen. Denn das Wort Utopie hat einen vielversprechenden Glanz, wohingegen die hier skizzierten praktischen Ansätze, um Utopisches auf den Weg zu bringen, mitunter erst einmal recht pragmatisch und arbeitsintensiv klingen. So schreibt das Netzwerk Care Revolution viel über eine ganz andere Organisierung von reproduktiver Arbeit.
Es geht aber auch um Nachhaltigkeit und eine Absage an die imperiale Lebensweise, um die für viele so attraktive Idee der Commons, um alternative Erziehungskonzepte, um die Utopie der freien Stadt, um die Sanctuary-City-Bewegung, um Cybersozialismus und um Vergesellschaftung als grundlegende Strategie, um eine Veränderung herbeizuführen. Insofern bietet der Band eine ganze Bandbreite aktueller Debatten, die grundlegend für die außerparlamentarische Bewegungslinke sind. Immer wieder taucht in den Texten der Begriff der Transformation auf. Nur wo hört reformistische Politik auf und wo fangen Utopien und das auch bei Marx zu findende »wahre Reich der Freiheit« an? Diese Frage wird in den Texten nicht klar beantwortet und bleibt offen. In einem Beitrag der IL Hannover, in dem es recht anschaulich um ein Hamburger Poliklinik-Kollektiv geht, heißt es: »An die Stelle eines Programms von oben muss das gemeinsame Suchen und Weiterentwickeln treten.« In diesem Sinn sind Utopien eben keine abgehobenen Ideen oder Theorien, sondern ganz praktische Handarbeit.
Es geht um das Machbare im bewegungslinken Alltag, und das kann unter Umständen Perspektiven einer neuen Welt aufzeigen.
Alexander Neupert-Doppler: »Konkrete Utopien – Unsere Alternativen zum Nationalismus«, Schmetterling-Verlag, 381 S., 16,80 €.