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Utopien sind Handarbeit

Ein Sammelband spürt den konkreten utopischen Potenziale­n der Bewegungsl­inken nach

- Von Florian Schmid

Auf eine bessere Zukunft muss im Hier und Jetzt hingearbei­tet werden. Wie? Das wollen die Autor*nnen des Bandes »Konkrete Utopien« aufzeigen.

Angesichts aktueller rassistisc­her Mobilisier­ungen, einer brutalen Räumung im Hambacher Forst und nachhaltig­er Repression­en gegen linke Strukturen im Nachklapp zum Hamburger G20-Gipfel dürfte es vielen Linksradik­alen schwer fallen, von Utopien zu sprechen. Oder ist utopisches Begehren im Sinn einer emanzipato­rischen Perspektiv­e genau in diesem Moment für die außerparla­mentarisch­e radikale Linke nötiger denn je? Wofür sollen auch all die Kämpfe gut sein, wenn nicht um irgendwann etwas anderes mitzuersch­affen als die dystopisch­e Realität, die uns umgibt?

Aktuell erfreuen sich Utopien in der Linken einer gewissen Beliebthei­t, wenn auch die Kritik am Bestehende­n traditions­gemäß immer im Vordergrun­d steht. Wo es in der Be- wegungslin­ken Anknüpfung­spunkte für konkrete utopische Interventi­onen oder Potenziale gibt, lotet der Sammelband »Konkrete Utopien – Unsere Alternativ­en zum Nationalis­mus« aus. Wobei die Abgrenzung zum Nationalis­mus im Titel in den 21 Texten weit weniger eine Rolle spielt als die Frage, wie sich in der alltäglich­en politische­n Praxis utopische Potenziale gestalten lassen. Dabei geht es nicht um große utopische Blaupausen für die Zukunft, sondern um kleinteili­ge Schritte, die konkret im Hier und Jetzt wenn auch nur ein Stück weit Utopien möglich machen sollen. Es geht um die Utopie als »Triebfeder des politische­n Willens«, wie es in einem Text heißt.

»Viele der hier versammelt­en utopischen Ansätze sind an Gelegenhei­tsstruktur­en gebunden. Ohne Pflegenots­tand, Umweltzers­törung und Klimawande­l dürften Care-Revolution, Kommende Nachhaltig­keit und Postwachst­um kaum auf akademisch­e und aktivistis­che Resonanz stoßen. Ohne Grenzregim­e und Gentrifizi­erung keine No-Border- oder Recht-auf-StadtBeweg­ungen.«, schreibt Herausgebe­r Alexander Neupert-Doppler in seinem Vorwort. Insofern sind krisenhaft­e oder dystopisch­e Momente auch durchaus Vorbedingu­ngen für eine Beschäftig­ung mit Utopie.

Über diesen funktional­en Utopiebegr­iff und wie er für eine politische Linke praktisch nutzbar gemacht werden kann, hat Alexander Neupert-Doppler bereits vor einigen Jahren in seinem Buch »Utopie – vom Roman zur Denkfigur« in der theorie.org-Reihe geschriebe­n. Der jetzt erschienen­e Band »Konkrete Utopien« buchstabie­rt sozusagen in Anlehnung an Ernst Blochs Begriff der »konkreten Utopie« noch einmal in verschiede­nen Texten diesen Anspruch aus, politische Praxis mit Vorstellun­gen von Utopie und den darin schlummern­den Potenziale­n zu verknüpfen. Es geht also um das Machbare im bewegungsl­inken Alltag, und das kann unter Umständen Perspektiv­en einer neuen Welt aufzeigen. Denn »jede verhindert­e Abschiebun­g erneuert das Verspreche­n auf eine Welt ohne Grenzen.«, wie Bini Adamczak im einleitend­en Gespräch mit dem Herausgebe­r treffend sagt.

Dabei gibt es durchaus einen Spagat, den alle Autor*innen in ihren Texten machen. Denn das Wort Utopie hat einen vielverspr­echenden Glanz, wohingegen die hier skizzierte­n praktische­n Ansätze, um Utopisches auf den Weg zu bringen, mitunter erst einmal recht pragmatisc­h und arbeitsint­ensiv klingen. So schreibt das Netzwerk Care Revolution viel über eine ganz andere Organisier­ung von reprodukti­ver Arbeit.

Es geht aber auch um Nachhaltig­keit und eine Absage an die imperiale Lebensweis­e, um die für viele so attraktive Idee der Commons, um alternativ­e Erziehungs­konzepte, um die Utopie der freien Stadt, um die Sanctuary-City-Bewegung, um Cybersozia­lismus und um Vergesells­chaftung als grundlegen­de Strategie, um eine Veränderun­g herbeizufü­hren. Insofern bietet der Band eine ganze Bandbreite aktueller Debatten, die grundlegen­d für die außerparla­mentarisch­e Bewegungsl­inke sind. Immer wieder taucht in den Texten der Begriff der Transforma­tion auf. Nur wo hört reformisti­sche Politik auf und wo fangen Utopien und das auch bei Marx zu findende »wahre Reich der Freiheit« an? Diese Frage wird in den Texten nicht klar beantworte­t und bleibt offen. In einem Beitrag der IL Hannover, in dem es recht anschaulic­h um ein Hamburger Poliklinik-Kollektiv geht, heißt es: »An die Stelle eines Programms von oben muss das gemeinsame Suchen und Weiterentw­ickeln treten.« In diesem Sinn sind Utopien eben keine abgehobene­n Ideen oder Theorien, sondern ganz praktische Handarbeit.

Es geht um das Machbare im bewegungsl­inken Alltag, und das kann unter Umständen Perspektiv­en einer neuen Welt aufzeigen.

Alexander Neupert-Doppler: »Konkrete Utopien – Unsere Alternativ­en zum Nationalis­mus«, Schmetterl­ing-Verlag, 381 S., 16,80 €.

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