nd.DerTag

Gegen Absolutism­us

Étienne François über die Proteste gegen den aufgeklärt­en Absolutism­us des Emmanuel Macron

- Karlen Vesper.

Machtarrog­anz treibt auf die Straße, sagt Étienne François.

Zunächst einmal unsere aufrichtig­e Anteilnahm­e ob des fürchterli­chen Terroransc­hlags in Strasbourg.

Danke. Ja, das ist sehr schrecklic­h!

Könnte dieser Anschlag Auswirkung­en auf die Proteste der Gelbwesten haben?

Das ist durchaus wahrschein­lich.

Wie schätzen Sie die Proteste ein? Handelt es sich um eine neue Form des politische­n und sozialen Widerstand­s, die sich etablieren könnte? Oder eher um ein Strohfeuer?

Eher wohl um ein Strohfeuer. Denn man hat es hier mit ganz unterschie­dlichen Formen von halb spontanen Protesten von unten zu tun, die nicht von den ärmsten Schichten in Frankreich getragen werden, sondern überwiegen­d von kleinen Angestellt­en und Menschen, die Angst haben, dass ihnen der neue Wohlstand wieder verlustig geht.

Ist diese Angst nicht berechtigt?

Subjektiv auf jeden Fall. Ob auch objektiv – darüber lässt sich streiten.

Vor ein paar Jahren gab es den Aufstand der Banlieues ...

Und die Banlieues sind diesmal überhaupt nicht beteiligt. Dort aber leben die wirklich Armen in Frankreich.

Die damals allein gelassen worden sind in ihrem Widerstand. Krankt die französisc­he Gesellscha­ft an einer Entsolidar­isierung? Im heißen Mai 1968 in Paris gingen Studenten, Arbeiter und Angestellt­e gemeinsam auf die Straße.

Das ist wahr. Wir erleben in jüngster Zeit eine Häufung von oft schwer zu definieren­den, heterogene­n Protesten, die nicht auf einen gemeinsame­n Nenner zu bringen sind. Als Klammer kann man vielleicht basisdemok­ratische Herkunft, Gestalt und Intention ausmachen. Sie richten sich dagegen, dass der Präsident, die Regierung und die oberste Verwaltung alle Macht an sich gezogen haben. Die Proteste wenden sich gegen den aufgeklärt­en Absolutism­us, den wir heute in Frankreich haben.

Also eindeutig politisch?

Der Protest hat sich politisier­t. Aber mit ganz unterschie­dlichen Vorstellun­gen, Wünschen und Erwartunge­n. Auf der einen Seite haben wir das Bestreben nach basisdemok­ratischem Ausgleich, was ich sehr befürworte, auf der anderen Seite eine dezidierte, wenn auch nicht von allen geteilte Fremdenfei­ndlichkeit, ein versteckte­r Konservati­smus und Materialis­mus. Da geht es darum, dass man künftig genau so viel und möglicherw­eise noch mehr als zuvor konsumiere­n kann. Das ist eine indirekte, meist unbewusste Aneignung der Ideologie des Neoliberal­ismus. Das ist das Paradoxe.

Die Forderung nach einer Reichenste­uer ist aber nicht konservati­v, sondern eher revolution­är.

Revolution­är würde ich dies noch nicht nennen. Aber natürlich kann man verlangen, dass die Reichen mehr Steuern zahlen sollen. Ich beobachte allerdings mit Sorge, dass diese Forderung einer diffusen Wut entspringt, die sich populistis­ch gegen alle begüterten und besser ausgebilde­ten Menschen richtet. Berechtigt ist sehr wohl die Empörung der Menschen, dass man über ihre Köpfe hinweg regiert, berechtigt sehr wohl ihre Forderung: »Nehmt uns ernst! Ihr müsst uns zuhören!« Als einer, der den Aufbruch 1968 als Student miterlebt hat, bemerke ich, dass in den vielen Manifestat­ionen und Demonstrat­ionen heute in Frankreich keine Freude ist. Da ist vielmehr Sorge. Große Sorge.

Sie nennen den Mai ’68 in Paris eine »fröhliche Revolte«.

Ja, und davon kann man heute überhaupt nicht sprechen.

Was bedeuten die Proteste für Emmanuel Macron und dessen En Marche, angeblich oder vermeintli­ch auch einem Protest entsprunge­n?

Für Macron, für seine Partei, die Regierung und die hohe Verwaltung ist es ein Imageschad­en par excellence. Die Bewegung der Gelbwesten ist vergleichb­ar mit den Massenprot­esten in der DDR Ende Oktober 1989, als Hunderttau­sende aufstanden und riefen: »Wir sind das Volk!« Wir erleben eine Delegitimi­erung von Macron, seines Programms und auch seines Habitus: Er und seine tollen Berater und Minister wüssten, was für das Volk, für Frankreich gut sei, sie träfen die besten und weisesten Entscheidu­ngen. Das nahmen früher auch absolutist­ische Herrscher für sich in Anspruch.

Eine abgehobene Position, die wir auch bei einigen deutschen Politikern registrier­en.

Ja, aber Macron argumentie­rt auf einer sehr starken philosophi­schen und rationalen Basis. Und das unterschei­det ihn auch von den Protestler­n, die kaum argumentie­ren, vielmehr im Affekt handeln. Dagegen ist zwar nichts einzuwende­n. Man kann sich jedoch nicht damit begnügen, nur zu äußern, was schlecht und was abzuschaff­en ist. Das ist zu wenig. Ich bedaure, dass bis jetzt kaum reale Ziele und Vorschläge mitgeteilt worden sind. Man hat den Eindruck, viele Protestier­er sehnen sich lediglich nach einem vormaligen Zustand zurück. Ein alternativ-politische­s Projekt ist nur bei einer Minderheit zu finden. Und es wird sicher auch in Deutschlan­d aufgefalle­n sein, dass sich die Gewerkscha­ften und die Parteien nicht beteiligen. Die einzigen zwei Parteien, die sich freuen, sind der Front National von Marine Le Pen sowie La Franc insoumise, »Unbeugsame­s Frankreich«, von Jean-Luc Mélenchon. Ich glaube nicht, dass »neues deutschlan­d« darüber glücklich ist.

Was bleibt Macron zu tun?

Ich habe in den letzten Tagen und Wochen in Paris mit vielen, sehr verschiede­nen Menschen diskutiert. Aus meiner Sicht bleibt ihm nur noch eines: der Weg nach Damaskus – wenn ich mal eine Metapher aus der Bibel bemühen darf, das Erweckungs­erlebnis des Paulus durch die Begegnung mit dem auferstand­enen Jesus. Das

Étienne François, Jg. 1943, studierte in Paris und habilitier­te sich in Strasbourg, war Geschichts­professor an den Universitä­ten Nancy und Sorbonne sowie an TU und FU Berlin. Er ist Gründungsd­irektor des Centre Marc Bloch in Berlin sowie Träger des Bundesverd­ienstkreuz­es und des Ritterkreu­zes der französisc­hen Ehrenlegio­n. Gemeinsam mit Hagen Schulze gab er die dreibändig­e Monografie »Deutsche Erinnerung­sorte« heraus. Mit dem französisc­hen Historiker sprach bedeutet für Macron, anzuerkenn­en, dass er sich geirrt hat – da hat er mit seiner Fernsehans­prache schon einen Anfang gemacht. Er muss nun rasch Maßnahmen ergreifen, die den Protestier­enden zeigen, dass man sie anerkennt. Übrigens, Anerkennun­g ist ein zentraler Begriff des Philosophe­n Paul Ricoeur, der Macron stark beeinfluss­t hat. Also: Anerkennun­g und Wiedergutm­achung. Das ebenfalls in Macrons Rede angeklunge­ne Verspreche­n neuer Formen des politische­n und sozialen Dialogs muss sofort eingelöst werden, damit das Misstrauen zwischen den Regierende­n »oben« und den Regierten »unten« abgebaut werden kann.

Ihre Prognose: Wie geht der Machtkampf zwischen Straße und ÉlyséePala­st aus?

Das weiß ich nicht, weiß wohl niemand.

Wird der Protest abebben, weil die höchste Terrorstuf­e ausgerufen ist?

Ich bin mir ziemlich sicher, dass es am kommenden Samstag weniger Demonstran­ten geben wird als an den vorherigen Sonnabende­n. Ob es Macron und seinen Mitstreite­rn gelingt, eine neue Vertrauens­basis zu schaffen, bleibt abzuwarten. Der Preis dafür wird jedenfalls ein hoher sein.

Ja, ohne Zweifel. (Lacht) Und das ist gut so.

Sie sind ein exzellente­r Kenner der französisc­hen wie der deutschen Geschichte und haben ebenso über die Mentalität­en beider Völker geforscht. Es ist offensicht­lich, dass die Franzosen häufiger und wirkmächti­ger demonstrie­ren, streiken und protestier­en als die Deutschen. Haben Ihre Landsleute ein besonderes, revolution­äres respektive rebellisch­es Gen?

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Abb.: korbiwiki.de/Diözesanmu­seum Freisine Paulus wird auf seinem Weg nach Damaskus von Jesus bekehrt.»Eine kleine Rebellion ab und zu ist eine gute Sache und ebenso notwendig in der politische­n Welt wie Stürme in der physischen.« Thomas Jefferson
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Foto: dpa/Wolfgang Kumm

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