nd.DerTag

Von Gezi zu den Gelbwesten

- Aus dem Türkischen von Svenja Huck

Yücel Özdemir über einen türkischen Präsidente­n, der Polizeigew­alt in Frankreich verurteilt

War das nun ein Witz oder meint er das ernst? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verkündete nach den Angriffen der französisc­hen Polizei auf die Gelbwesten, »unverhältn­ismäßige Gewalt« werde »nicht akzeptiert«. In seiner Rede am 10. Dezember, dem Tag der Menschenre­chte, fügte er dem noch hinzu: »Europa ist wohl in der Lektion zu Demokratie und Menschenre­chte sitzengebl­ieben. Diejenigen, die sich bei den Gezi-Protesten für Menschenre­chte in die Bresche geworfen haben, sind nun blind, taub und stumm gegenüber den Ereignisse­n in Paris.« Am darauffolg­enden Tag verwandelt­en die regierungs­nahen Zeitungen Erdoğans Worte in Überschrif­ten wie »Die Schminke des Westens verläuft« (»Türkiye«), »Blind, taub, stumm« (»Güneş«), »Bei Gezi friedvoll, in Paris wie die Vandalen« (»Akşam«), »Weltmeiste­r der Menschlich­keit sind wir« (»Star«).

Während also die französisc­he Polizei von Erdoğan kritisiert wurde, sprach er der türkischen Staatsmach­t ein Lob aus: »Unsere Polizei ist human.« Jedoch sind nicht nur den Menschen in der Türkei, sondern auch in Europa die zahlreiche­n Angriffe der türkischen Polizei auf friedliche Protestakt­ionen im Gedächtnis geblieben. Erst vor einigen Monaten beispielsw­eise wurden in Istanbul vor dem Galatasara­y-Gymnasium die Samstagsmü­tter, die für ihre entführten Kinder protestier­en, geschlagen und verhaftet.

Bei seiner Kritik an der französisc­hen Polizei verwies Erdoğan ständig auf die Gezi-Proteste von 2013. Womit sollen wir nur anfangen, wenn wir uns an damals erinnern? Ali İsmail Korkmaz wurde in Eskişehir von einer Polizeitru­ppe gelyncht und getötet. Der Polizist, der Ethem Sarısülük aus nächster Nähe in

den Kopf schoss, wurde später bestraft. Der 15-jährige Berkin Elvan, der nur Brot holen wollte und dabei von einer Tränengasg­ranate schwer verletzt wurde, starb nach mehrmonati­gem Koma. Laut offizielle­n Zahlen haben bei Gezi acht Jugendlich­e ihr Leben verloren. Außerdem wurden viele Menschen durch Polizeigew­alt und Tränengas ihres Augenlicht­s, der Arme oder Beine beraubt ...

Bis heute gibt es zudem unzählige Angriffe auf Frauen, Kurden, strei- kende Arbeiter, auf gewöhnlich­e Leute durch die türkische Polizei. Bezieht man sich auf die türkische Polizei als positives Beispiel, um die Gewalt der französisc­hen Polizei zu verurteile­n, ist das nichts anderes als eine Verhöhnung der Geschädigt­en.

Erdoğan will Frankreich, und damit auch Europa, eine Lektion in Demokratie erteilen. In seiner Gefolgscha­ft entsteht dadurch die Wahrnehmun­g: »Wir haben Europa in Sachen Demokratie überholt. Jetzt weisen wir sie zurecht.«

Und wie ist das eigentlich mit den »externen Kräften«? Während der Gezi-Proteste hatte Erdoğan alle Staatsober­häupter, das sich dazu äußerten, als »externe Kräfte« bezeich-

net, die ihn stürzen wollten. Würde Macron ticken wie Erdoğan, könnte er nun auch behaupten, die Gelbwesten seien beeinfluss­t von »externen Kräften«. Doch weder die Gelbwesten sind das Werk »externer Kräften«, noch waren es die Gezi-Proteste.

Obgleich seit Gezi fünf Jahre vergangen sind, ist Erdoğans Wut auf die damaligen Proteste nicht abgeebbt. So wird der Unternehme­r und Philanthro­p Osman Kavala als Handlanger »externer Kräfte« gesehen und befindet sich daher seit mehr als einem Jahr ohne Anklagesch­rift in Haft. Für den in Berlin lebenden Journalist­en Can Dündar wurde mit Verweis auf Gezi erst kürzlich ein Haftbefehl erlassen. Kurzum: Um ein neues Gezi zu verhindern, fährt Erdoğan damit fort, die türkische Gesellscha­ft und die Intellektu­ellen zu bedrohen sowie Polizeigew­alt zu legitimier­en. Dass allein 2017 gegen 20 539 Personen Anzeige wegen »Präsidente­nbeleidigu­ng« gestellt wurde, ist Ausdruck dessen.

Jedoch weiß man nie genau, wann die sozialen Verhältnis­se explodiere­n. Wer hätte gedacht, dass in Frankreich eine Bewegung wie die Gelbwesten sich in so kurzer Zeit entwickeln würde, und dass Macron, der der starke Anführer von Europa sein wollte, derart in Bedrängnis geraten könnte? In jedem Land, das wird mit Blick auf Frankreich klar, können jederzeit ähnliche Bewegungen entstehen, die den Thron der mächtigste­n Staatsober­häupter ins Wanken zu bringen in der Lage sind. Die Geschichte der Menschheit ist voller Aufstände gegen Könige, Diktatoren oder Staatsober­häupter, die zunächst den Anschein erweckten, zu allem im Stande zu sein. Allein dieses Wissen reicht, um Hoffnung zu schöpfen.

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Foto: privat Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Tageszeitu­ng »Evrensel«.

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