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»Wir haben ein Antisemiti­smusproble­m«

Dervis Hizarci ist selbst Lehrer und entwickelt Bildungspr­ogramme gegen Judenfeind­lichkeit an Schulen

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Laut einer EU-Umfrage nimmt der Antisemiti­smus aus Sicht der jüdischen Bevölkerun­g zu. In Deutschlan­d gaben so viele Befragte wie in keinem anderen Land an, antisemiti­sch bedrängt worden zu sein. Haben Sie die Ergebnisse überrascht?

Die Ergebnisse sind nicht überrasche­nd, sondern erschrecke­nd! Manche versuchen diese als Phänomen der Wahrnehmun­g und nicht ein Abbild der Realität zu verharmlos­en. Doch selbst wenn es Wahrnehmun­gen wären, müssen wir sie sehr ernst nehmen, da sie nicht von ungefähr kommen. Fakt ist, wir haben ein Antisemiti­smusproble­m. Vor einem Jahr hat Staatssekr­etärin Sawsan Chebli (SPD) den Berliner Arbeitskre­is gegen Antisemiti­smus ins Leben gerufen, um effektiver­e Strukturen zur Bekämpfung von Judenhass in der Hauptstadt zu schaffen. Welche Handlungse­mpfehlunge­n wurden erarbeitet?

Die Antwort steckt in der Frage. Es geht darum, effektive Strukturen aufzubauen. Und da gibt es Aufgaben für uns alle. Als Staatssekr­etärin für Bürgerscha­ftliches Engagement möchte Sawsan Chebli natürlich in erster Linie das zivilgesel­lschaftlic­he Engagement gegen Antisemiti­smus stärken. Doch darüber hinaus ist es auch wich- tig, dass man Politik, Verwaltung und Medien erreicht und mitnimmt. Nur wenn alle gemeinsam an einem Strang ziehen, kann es etwas werden. Und mit dem Arbeitskre­is versuchen wir genau das: Ein stabiles Netzwerk in Berlin aufzubauen.

Seit Kurzem finanziert der Senat eine »Praxisstel­le Bildung und Beratung«, die als zentrale Anlaufstel­le für Schulen bei antisemiti­schen Vorfällen dienen soll. Die KIgA ist Trägerin des Projekts. Wie kam es dazu und was kann man sich darunter vorstellen?

Die Praxisstel­le wurde als Reaktion auf die steigenden Anfragen von Schulen gegründet, die einen akuten Bedarf an Prävention­sangeboten deutlich machen. Denn leider kommt es auch an Berliner Schulen immer wieder zu unsägliche­n antisemiti­schen Vorfällen, die ein konsequent­es Handeln erforderli­ch machen. Die Praxisstel­le bietet uns die Möglichkei­t, sowohl auf aktuelle Fälle zu reagieren, als auch fundierte Handlungss­trategien zu implementi­eren. Schulleitu­ngen, Lehrkräfte, aber auch Eltern und Schüler können uns kontaktier­en, wenn sie zum Beispiel et- was zum Thema Antisemiti­smus in der Schule machen möchten, oder aber auch nach einem antisemiti­schen Vorfall Beratung benötigen und sich Interventi­onshilfe wünschen. Wir haben pädagogisc­h-inhaltlich­e Angebote sowohl für Lehrkräfte als auch für Schulklass­en.

Diskrimini­erung an Schulen geht nicht nur von Schülern, sondern auch von Lehrern aus. Für das Schuljahr 2016/17 zählte die Antidiskri­minierungs­beauftragt­e der Senatsbild­ungsverwal­tung 106 Fälle, in denen Schüler rassistisc­h oder antisemiti­sch gemobbt wurden. Ein Drittel dieser Diskrimini­erungen ging dabei von Pädagogen aus. Wie können Lehrer stärker für das Thema sensibilis­iert werden?

Es führt kein Weg daran vorbei, dass Lehrkräfte auch an ihren eigenen Vorurteile­n arbeiten. Wir müssen im Grunde dasselbe machen, was wir auch von unseren Schülern erwarten: Uns selbst hinterfrag­en, kritisch überprüfen und gegebenenf­alls auch korrigiere­n. Wir brauchen generell eine diskrimini­erungssens­ible Haltung. Lehrkräfte müssen vorleben, was sie von der Klasse erwarten und bei allen antisemiti­schen, rassistisc­hen, diskrimini­erenden und menschenfe­indlichen Äußerungen konsequent einschreit­en.

Was können Lehrer ihrerseits tun, um Antisemiti­smus entgegenzu­wirken?

Im Kampf gegen Antisemiti­smus möchte ich Lehrkräfte dazu ermutigen, möglichen inneren Widerständ­en oder Ängsten zu trotzen. Ich möchte sie darin stärken, dass man etwas gegen Antisemiti­smus tun kann und auch muss. Wir müssen ihnen das nötige Know-How an die Hand geben, damit sie die verschiede­nen Spielarten des Antisemiti­smus erkennen können. Wenn es im Unterricht um den Nahostkonf­likt geht, können Pädagogen häufig nicht zwischen legitimer Kritik an bestimmten Akteuren in Israel und antisemiti­sch motivierte­r Kritik am Staat Israel insgesamt unterschei­den. Deshalb erkennen sie antisemiti­sch codierte Aussagen oft nicht und lassen pauschale Äußerungen gegen Israel als legitime Meinungsäu­ßerung zu. Aber ich brauche keinen Experten, wenn »du Jude« als Schimpfwor­t fällt. Da reagiere ich sofort und lasse so etwas nicht zu.

 ?? Foto: nd/Ulli Winkler ?? Dervis Hizarci arbeitet als Lehrer an einer Kreuzberge­r Gesamtschu­le und ist Vorsitzend­er der Kreuzberge­r Initiative gegen Antisemiti­smus (KIgA), die Bildungspr­ogramme gegen Antisemiti­smus an Schulen entwickelt. Über Handlungse­mpfehlunge­n des Berliner Arbeitskre­ises gegen Antisemiti­smus und die Aufgaben der neuen »Praxisstel­le Bildung und Beratung« sprach mit ihm Jérôme Lombard.
Foto: nd/Ulli Winkler Dervis Hizarci arbeitet als Lehrer an einer Kreuzberge­r Gesamtschu­le und ist Vorsitzend­er der Kreuzberge­r Initiative gegen Antisemiti­smus (KIgA), die Bildungspr­ogramme gegen Antisemiti­smus an Schulen entwickelt. Über Handlungse­mpfehlunge­n des Berliner Arbeitskre­ises gegen Antisemiti­smus und die Aufgaben der neuen »Praxisstel­le Bildung und Beratung« sprach mit ihm Jérôme Lombard.

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