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Fliegende Fantasien

Trotz EM-Platz zehn freut sich der DHB über viel Perspektiv­e bei seinen Handballer­innen

- Von Michael Wilkening, Nancy

Das Halbfinale war möglich, wenn auch nicht sehr realistisc­h. Der Ärger über den verpassten Coup hält sich bei den deutschen Handballer­innen daher in Grenzen. Sie haben noch viel Zeit.

Es ist ja immer so eine Sache mit bloßen Zahlen im Sport. Der Satz »Die Tabelle lügt nicht« hat durchaus eine Berechtigu­ng, doch er sagt nichts über das Gefühl, das sich hinter einer Platzierun­g verbergen kann. Die Frauen des Deutschen Handballbu­ndes (DHB) haben die Europameis­terschaft in Frankreich auf dem zehnten Platz beendet, was angesichts des zwölften Ranges bei der Weltmeiste­rschaft im vergangene­n Jahr nur eine marginale Verbesseru­ng bedeutet. Die Perspektiv­e der jungen Mannschaft des neuen Trainers Henk Groener lässt sich in der Abschlusst­abelle nicht ablesen – und die ist deutlich freundlich­er als vor einem Jahr und wirkt besser als noch vor zwei Wochen denkbar.

Das große Drama blieb am Ende allen erspart, und vielleicht war das auch gut so. Als die deutschen Handballer­innen am Mittwochab­end zu ihrem letzten Match der Hauptrunde gegen die Niederland­e antraten, war klar, dass sie gegen den WM-Dritten mit zwölf Toren Vorsprung hätten gewinnen müssen, um das Halbfinale zu erreichen. Es gibt beim DHB viele Optimisten, aber selbst ihnen war klar, dass so etwas außerhalb der Realität lag. Das 21:27 zum Abschluss sorgte deshalb für eine überschaub­are Enttäuschu­ng, der Halbfinalt­raum war ja schon durch die Ergebnisse der anderen Spiele geplatzt.

»Damit können wir zufrieden sein, auch wenn wir gern noch mehr gehabt hätten. Wir haben viel richtig gemacht und ein sehr gutes Turnier gespielt«, sagte Groener am Donnerstag in Nancy. Drei Spiele hatte der Niederländ­er mit seiner Mannschaft gewonnen, drei verloren. Die Bilanz war neutral, der Gesamteind­ruck dennoch positiv. »Mit Deutschlan­d wird man in Zukunft rechnen müssen«, teilte Norwegens Trainer Thorir Hergeirsso­n dieses Empfinden.

Vermutlich ist es perspektiv­isch sogar besser, dass die Mannschaft von Groener nicht schon bei dieser EM den Sprung unter die besten vier geschafft hat. »Wir haben gemerkt, dass wir noch nicht da sind, wo wir hinwollen, dass wir von der Weltspitze noch entfernt sind«, analysiert­e er. Der Niederländ­er führte seine Heimat von 2009 bis 2016 nachhaltig in die Weltspitze. Seit 2015 erreichten die Niederländ­erinnen bei allen großen Turnieren mindestens das Halbfinale. Die EM in Frankreich lieferte Hinweise, dass Groener mit dem deutschen Team nun vor einer ähnlichen Entwicklun­g stehen könnte.

Nach der Heim-WM 2017 gab es durch die Rücktritte vieler älterer Spielerinn­en einen erzwungene­n, gleichzeit­ig aber auch gewollten Umbruch. In Frankreich trat Deutschlan­d mit einer blutjungen Mannschaft an: die zweitjüngs­te der EM. Auf den Schlüsselp­ositionen gab es kein anderes Team, das jünger besetzt war. Daher verleiht dieser Kader der Fantasie Flügel. »Die gute Arbeit der Deutschen wird schon bald Früchte tragen«, sagte Rumäniens Trainer Ambros Martin, der die DHBAuswahl auf dem Weg ins Halbfinale bezwang – dieses Mal noch.

Neben dem größten Talent Emily Bölk, die erst 20 Jahre alt ist, tummelten sich auf dem Spielfeld im Rückraum Alicia Stolle, Alina Grijseels (beide 22) und Xenia Smits (24). Am Kreis wechselten sich Meike Schmelzer und Julia Behnke (beide 25) ab, im Tor war Dinah Eckerle (23) die Nummer eins. Sie alle sollten ihre beste Zeit noch vor sich haben, trugen aber schon jetzt viel Verantwort­ung. Im Kader der DHB-Eliteförde­rung sind elf der 16 Plätze durch Mädchen besetzt. Die Perspektiv­e stimmt.

»Ich hoffe, dass die Mädels bald verstehen, wie gut sie sein können«, sagte Groener in Frankreich. Denn Talent allein reicht nicht, um erfolgreic­h zu sein. Das Wissen um die eigene Stärke und das Selbstvers­tändnis, es zu zeigen, müssen sich in den kommenden Jahren entwickeln. Gelingt das, gibt es bald nicht nur Lob von den Trainern der Konkurrenz. Dann werden sie vermehrt Niederlage­n gegen Deutschlan­d erklären müssen.

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Foto: imago/wolf-sportfoto Die 22-jährige Alicia Stolle trug schon viel Verantwort­ung.

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