Spahn und das Lipödem
Viele Lipödem-Patientinnen haben starke Schmerzen in den Beinen – eine frühe Behandlung ist wichtig
Fettabsaugung könnte Leistung der Krankenkassen werden.
Auch unter Ärzten ist umstritten, ob Betroffenen mit einer Fettverteilungsstörung nur eine Absaugung helfen kann. Die meisten Mediziner empfehlen, vorab konservativ zu behandeln.
Fast 30 Jahre lang wusste Rita H. nicht, was mit ihr los war. Warum hatte sie so dicke Beine? »Ich dachte, ich sei eben übergewichtig, und habe mir die Schuld dafür gegeben.« Diät halten, Sport treiben – das sind die üblichen Ratschläge, denen Frauen mit solchen Problemen tagtäglich begegnen. Bei Rita H. brachte all das nichts. Ihre Beine wurden immer umfangreicher und schwerer, weil sich mehr und mehr Wasser einlagerte. »Ich erinnere mich, dass ich irgendwann unten an der Treppe stand und nicht wusste, wie ich da raufkommen soll«, berichtet die 46-Jährige. Jede Bewegung war unendlich anstrengend, hinzu kamen starke Schmerzen in den Beinen. »Es gab so viele Einschränkungen. An einen Spaziergang war nicht mehr zu denken.« Doch vor knapp drei Jahren hatte eine Freundin, deren Tochter an einem Lipödem litt, einen Verdacht. Auf ihr Drängen stellte sich Rita H. in einer Klinik vor und bekam endlich die Diagnose: Auch sie hatte ein Lipödem.
Darunter versteht man eine Fettverteilungsstörung, die fast nur Frauen betrifft. An den Beinen, manchmal auch an den Armen, vermehrt sich das Unterhautfettgewebe, sodass die Proportionen falsch wirken: Oberkörper, Hände und Füße bleiben schlank, die Gliedmaßen sind dagegen voluminös. In den betroffenen Bereichen werden die kleinsten Blutgefäße brüchig und durchlässig. Dadurch sammelt sich immer mehr Flüssigkeit im Gewebe an. Die Beine sind deshalb angeschwollen und druckempfindlich, außerdem leiden viele Betroffene an Schmerzen. Diäten ändern an der Situation nichts. Aber: »Wenn eine Frau zusätzlich Adipositas (starke Fettleibigkeit) hat, verschlimmert sich das Lipödem«, sagt die Hautärztin und Gefäßspezialistin Stefanie Reich-Schupke aus Bochum, federführende Autorin der medizinischen Lipödem-Leitlinie.
Wie viele Menschen an der Krankheit leiden, ist unklar – die Angaben zur Häufigkeit schwanken extrem. Dabei können Ausprägung und Verlauf ganz unterschiedlich sein. Oft beginnen die Probleme in der Pubertät und verschlimmern sich durch Schwangerschaften oder in den Wechseljahren. Daher gehen Ärzte davon aus, dass Hormone eine Rolle spielen. Offensichtlich ist, dass die Veranlagung oft vererbt wird. In vielen Familien gibt es nämlich gleich mehrere Fälle.
Wer an sich verdächtige Symptome entdeckt, sollte bald zum Arzt gehen. Vielleicht sind die Sorgen auch unbegründet. »Eine frühe, aber verlässliche Diagnose ist sehr wichtig«, sagt Reich-Schupke. »Lieber lässt man einmal zu oft nachschauen, als dass man etwas versäumt.« Eine Heilung gibt es zwar nicht. Aber je eher ein Lipödem behandelt wird, desto besser stehen die Chancen, es in den Griff zu bekommen. Schreitet die Krankheit dagegen voran, kann es zu Gelenkproblemen und zu einem Lipolymphödem kommen, bei dem sich Lymphflüssigkeit staut.
An erster Stelle steht eine konservative Therapie mit speziellen Kompressionsstrümpfen, Bewegungstherapie, Lymphdrainage und eventuell einer Ernährungsumstellung. »Dadurch lassen sich Schmerzen und Ödeme lindern«, sagt Reich-Schupke. »Am ungleichen Verhältnis zwischen Ober- und Unterkörper ändert sich dadurch aber nichts.« Das krankhaft veränderte Unterhautfettgewebe kann man nur mit einer Fettabsaugung reduzieren. Doch diese Liposuktion sollte gut überlegt sein – nicht nur, weil die Patientinnen sie meist selbst bezahlen müssen. Denn längst nicht bei jeder Betroffenen schreitet die Krankheit so dramatisch voran, dass ein Eingriff nötig ist. »Es stimmt nicht, dass sich ein Lipödem ohne Operation nicht aufhalten lässt«, betont die Ärztin. Unter anderem lasse sich der Verlauf durch gesunde Ernährung und viel Bewegung günstig beeinflussen.
Auch Chirurg Axel Baumgartner aus Lübeck plädiert dafür, nicht vorschnell einzugreifen. »Es ist wichtig, dass die Patientinnen mit der konservativen Therapie Erfahrung hatten, bevor sie operiert werden.« Außerdem komme es auf den Leidensdruck an. »Man sagt zwar: Je früher man operiert, desto besser. Aber man muss die Situation der Patientin immer individuell sehen«, sagt er. Der Eingriff wird meist bei örtlicher Betäubung vorgenommen. Dabei handelt es sich der Leitlinie zufolge um eine »etablierte und risikoarme Methode«. Stefan Rapprich, LipödemChirurg aus Bad Soden und Mitautor der Leitlinie, erklärt: »Das Risiko ist etwa mit einer Krampfadern-Operation vergleichbar.«
Da das Lipödem bei Rita H. so stark fortgeschritten war, riet ihre Ärztin zur Liposuktion. Vorgesehen sind bei ihr insgesamt fünf Operationen, von denen sie bereits zwei hinter sich hat. »Das ist eine Tortur, weil die Wundflächen groß sind und es zu Schwellungen kommt. Aber sie lohnt sich.« Bislang seien 17 Liter Fett abgesaugt worden. Das bedeutet auch eine enorme Entlastung für ihre Gelenke. Sie waren durch das zusätzliche Gewicht so stark beansprucht, dass Rita H. sich im vergangenen Jahr am Knie operieren lassen musste. »Eine Liposuktion bei Lipödem wird gern mit einer Schönheitsoperation in einen Topf geworfen. Damit hat sie nichts zu tun«, setzt sie entschieden hinzu.
Sollen Fettzellen dauerhaft entfernt werden, gibt es Rapprich zufolge »derzeit keine Alternative zur Liposuktion«. Komplett absaugen kann man das krankhaft veränderte Fettgewebe nicht. »Man erreicht aber eine nachhaltige Besserung der Beschwerden, vor allem dann, wenn man frühzeitig operiert«, sagt der Dermatologe. Wichtig sei, die Operation in einen ganzheitlichen Ansatz einzubetten: »Liposuktion ist Teil eines Gesamtkonzepts. Dazu gehören auch Sport, Ernährung, Kompression, Lymphdrainage und psychologische Unterstützung.« Letztere ist oft geboten, da viele Patientinnen nicht nur unter Schmerzen und Einschränkungen leiden, sondern auch mit ihrer Figur unzufrieden sind. Mögliche Folgen sind Essstörungen und Depressionen.
Belastend sind für Patientinnen wie Rita H. außerdem die hohen Behandlungskosten: Die 46-Jährige muss für die Fettabsaugung insgesamt rund 18 000 Euro berappen, da sie bislang keine Regelleistung der gesetzlichen Krankenkassen ist.