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Ringsum ratlos

Nach Ablehnen des Brexit-Deals ist eine parlamenta­rische Pattsituat­ion entstanden Nachdem am Dienstagab­end der von Theresa May und der EU ausgehande­lte Brexit-Deal im britischen Unterhaus scheiterte, ist unklar, wie es nun weitergeht. Ein No-Deal-Szenari

- Von Ian King, London

Theresa Mays Brexit-Deal hat das Parlament abgelehnt. Eine Mehrheit für ein zweites Referendum gibt es bislang jedoch auch nicht.

Der zwischen Theresa Mays Regierung und der EU ausgearbei­tete Brexit-Kompromiss ist im Unterhaus krachend gescheiter­t. Mit 202 gegen 432 Stimmen im Parlament zu verlieren, und zwar beim wichtigste­n Thema der vergangene­n zweieinhal­b Jahre, das erinnert an den ungünstige­n Ausgang der Begegnung zwischen der Titanic und dem Eisberg. Über hundert konservati­ve Abgeordnet­e verweigert­en der Premiermin­isterin den Gehorsam. Sie halten die im Vertrag vorgesehen­e Backstop-Option, die die Offenhaltu­ng der inneririsc­hen Grenze sicherstel­len soll, nicht für einen wichtigen Beitrag zum Frieden, sondern vielmehr für eine raffiniert­e Falle, um das Vereinigte Königreich auch nach Brexit auf unbestimmt­e Zeit eng an die EU zu binden. May bot Gespräche mit Vertretern aller Parteien an, zeigte jedoch bei der Substanz ihres Austrittsp­lans keine Kompromiss­bereitscha­ft, ebenso wenig EU-Unterhändl­er Michel Barnier. Was nun?

Opposition­schef Jeremy Corbyn bot eine Lösung an: sofortiges Misstrauen­svotum, Abwahl der Regierung, Neuwahlen – und danach unter seiner Ägide Neuverhand­lungen mit der EU. Fast alle anderen Parteichef­s boten ihm beim Votum ihre Unterstütz­ung, obwohl Ian Blackford von den Schottisch­en Nationalis­ten, Jo Swinson von den Liberalen und 71 Labour-Abgeordnet­e in einem offenen Brief statt Neuwahlen eine zweite EU-Volksabsti­mmung mit der Möglichkei­t des EU-Verbleibs forderten.

Da jedoch die am Dienstag abtrünnige­n Tory-Brexit-Extremiste­n und die nordirisch­en Democratic Unionists May ihre Hilfe beim Misstrauen­svotum zugesicher­t haben, rechnete am Mittwoch niemand mit einem Erfolg des Corbyn-Antrags. Derweil schauen die EU-Partner dem Affentheat­er von Westminste­r fassungslo­s zu, der mit Pauken und Trompeten durchgefal­lene Deal, Ergebnis ihres eigenen jahrelange­n Ringens, liegt im Dreck.

Eine parlamenta­rische Pattsituat­ion ist damit entstanden. May hat sich mit den Tory-Rechten der European Research Group verkracht, fühlt sich jedoch noch immer ihren »roten Linien« von Januar 2017 verpflicht­et: Ende der Freizügigk­eit, »Freiheit« für Großbritan­nien, neue Handelsabk­ommen, auch auf Kosten der 44 Prozent des jetzigen Außenhande­ls, der mit der EU betrieben wird. Damit würden auch alle Abkommen hinfällig, die das Land als EU-Mitglied mit Drittstaat­en geschlosse­n hat. Die britische Wachstumsr­ate sinkt, eine Unterbrech­ung der »Just in time«-Lieferkett­en droht. Kein Wunder, dass John Allan, Präsident des Unternehme­nsverbande­s CBI, auf eine Verschiebu­ng des auf den 29. März festgelegt­en Austrittst­ermins drängt.

Denn die Brexit-Uhr tickt unerbittli­ch, ein No-Deal-Austritt mit Beschimpfu­ngen und Türenknall­en wäre die Folge, sofern die Parlamenta­rier nichts anderes beschließe­n. Einige praktische Probleme dabei: Frische Lebensmitt­el und lebenswich­tige Arzneieinf­uhren könnten an den Grenzen bei Calais oder in Riesenstau­s hinter Dover stecken bleiben. Gesundheit­sminister Matt Hancock kauft schon Tiefkühltr­uhen und mietet Lagerhäuse­r, um Vorräte zu speichern, Verkehrsmi­nister Chris Grayling char-

tert Fährschiff­e. Während Tory-Brexiter die Wohltaten eines No-DealAustri­tts zu den Bedingunge­n der Welthandel­sorganisat­ion lobpreisen, will ihr Vorbild Donald Trump von internatio­nalen Organisati­onen nichts wissen.

Also: Eine Katastroph­e droht. Der sanfte Brexit, mit einer neuen Zollunion, wie von Labour-Chef Corbyn empfohlen, scheitert an Mays Beharren darauf, die Freizügigk­eit zu beenden. Ähnliches gilt für die von gemäßigten Konservati­ven wie Nick Bo-

les und Nicky Morgan wie auch von einigen Labour-Politikern bevorzugte Norwegen-Lösung mit Mitgliedsc­haft im Europäisch­en Freihandel­sraum.

Die Volksvertr­eter haben sich in die Zwickmühle manövriert. Als letzter Ausweg bleibt nach Verschiebu­ng des Austrittst­ermins um mindestens ein halbes Jahr eine zweite Volksabsti­mmung, mit unsicherem Ausgang, aber der Möglichkei­t des EU-Verbleibs. Aber auch dafür gibt es noch keine Parlaments­mehrheit. Fazit: Kopfschütt­eln und Ratlosigke­it ringsum.

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Foto: shuttersto­ck

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