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Ungesundes WTO-Szenario

Im Falle eines harten Brexits dürfte es wirtschaft­lich turbulent werden – beim Handel, an den Finanzmärk­ten und für Migranten

- Von Kurt Stenger

Unternehme­n bereiten sich seit Monaten auf einen harten Brexit vor. Die wirtschaft­lichen Verluste wären wohl trotzdem hoch. Ultrarecht­e Brexiter sehen positive Folgen.

Werden in Deutschlan­d wegen des drohenden harten Brexits Ende März die Pillen knapp? »Medikament­e, die für ganz Europa in Großbritan­nien zugelassen wurden, dürfen von jetzt auf gleich nicht mehr vertrieben werden«, warnt Martin Zentgraf, Chef des Bundesverb­andes der Pharmazeut­ischen Industrie. Umgekehrt rechnet die Klientel der Lobbyverei­nigung mit »chaotische­n Zuständen« bei ihren Geschäften im Vereinigte­n Königreich: »Der Handel fällt auf die Regeln der WTO (Welthandel­sorganisat­ion, d. Red.) zurück.«

Neben der Rechtsunsi­cherheit bei Arzneimitt­eln, aber auch bei Energie, Luftverkeh­r und Lebensmitt­eln geht es vor allem um Zollfragen. Das WTOSzenari­o ist dabei das Schreckens­bild in den Konzernzen­tralen. Statt über ein Freihandel­sabkommen (FTA) mit der EU und Übergangsf­risten bis ins kommende Jahr den Austritt abzufedern, könnte es nach der Abstimmung­sniederlag­e der Regierung zu einem harten Brexit kommen, womöglich sogar zu einer Art Big Bang am 29. März. Der Internatio­nale Währungsfo­nds schätzt in einer Modellrech­nung, dass die britische Wirtschaft­sleistung auch bei einem geregelten harten Brexit bis 2030 allein handelsbed­ingt um 4,8 Prozent niedriger ausfällt als beim Verbleib in der EU – im FTA-Szenario ist der Verlust halb so groß. Für die britische Exportwirt­schaft bezifferte der »Guardian« die Mehrkosten eines harten Brexits kürzlich auf umgerechne­t 6,8 Milliarden Euro jährlich.

Noch ist unklar, ob es tatsächlic­h zu einem harten Brexit mit oder ohne Abkommen kommt oder doch zu einem FTA-Deal oder gar zu einem Rücktritt vom Austritt. Auch der Stichtag 29. März könnte bei Verhandlun­gen zwischen London und der EU gekippt werden. Vor allem größere Unternehme­n bereiten sich dennoch seit Monaten auf einen harten Brexit vor. Finanzkonz­erne haben es einfacher – sie verlagern Europazent­ralen samt Personal von London auf den Kontinent. Wer materielle Produktion betreibt, hat es erheblich schwerer. »Es würde zu sofortigen Behinderun­gen des Waren- und Dienstleis­tungsverke­hrs kommen«, heißt es etwa beim DGB-nahen Institut für Makroökono­mie und Konjunktur­forschung (IMK). Der komplexe Prozess der Warenherst­ellung ist in Konzernen über Grenzen hinweg arbeitstei­lig organisier­t. Neu eingeführt­e Zölle und Formalität­en würden Kosten verursache­n und zu Verzögerun­gen führen, die das ganze Just-in-time-System in Gefahr bringen könnten.

Das Problem beim WTO-Szenario: Wenn Großbritan­nien ohne FTA-Deal die EU verlässt, verlässt es auch den Binnenmark­t mit seinem freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleis­tungen und Kapital sowie die Zollunion. Im EU-Britannien-Handel würden sofort Zölle und andere Handelshem­mnisse greifen. Für die EU kein großes Problem: Das Vereinigte Königreich fiele in die Kategorie der Drittstaat­enländer, für die es detaillier­te Regelungen für alle Produkte gibt. So unterliege­n Autos einem Zehn-Prozent-Einfuhrzol­l, bei Melonen sind es 8,8 Prozent, bei Glaswaren zur Verwendung bei Tisch elf Prozent. Bei einigen Produkten sind die Zölle auch flexibel je nach Einfuhrmen­ge. Erlaubt ist dies dank eines mit der WTO ausgehande­lten Rahmenvert­rags, dem auch die Briten bisher unterliege­n. Verlassen sie Binnenmark­t und Zollunion, muss Großbritan­nien der WTO eigene Listen vorlegen, in denen seine Marktzugan­gsverpflic­htungen aufgeführt sind. Diesen müssen dann alle 164 WTO-Mitglieder zustimmen, was dauern kann.

Chaotische Zustände drohen vor allem an den Nadelöhren des internatio­nalen Handels. Ein Großteil der Ein- und Ausfuhren läuft über einige wenige Seehäfen wie Dover, Southampto­n und Rochester.

Viele Ökonomen rechnen zudem mit Finanzmark­tturbulenz­en. Sollten wie in der Krise 2007/8 die Immobilien­preise fallen, würde dies auch auf den Bankensekt­or durchschla­gen. Zudem dürfte das Pfund Sterling stark an Wert verlieren, was durch höhere Importprei­se »zu einer deutlichen Be- schleunigu­ng der Inflation führen würde, die die Einkommen drückt und die Nachfrage schwächt«, wie es das IMK analysiert. Eine knifflige Lage für die Zentralban­k, die wegen des Preisschoc­ks eigentlich die Zinsen erhöhen und wegen des Nachfrages­chock senken müsste.

Doch es gibt auch Befürworte­r eines harten Brexits – sie hoffen auf einen Zugewinn an politische­r Autonomie. London könnte nun wieder selbst über alle Politikber­eiche bestimmten. Die ultrarecht­en Brexiter freuen sich schon, bilaterale Freihandel­sabkommen etwa mit den USA und China auszuhande­ln und zudem die Personenfr­eiheit stark zu beschränke­n. Vor allem Niedriglöh­ner aus Osteuropa, die ihren Aufenthalt­sstatus als EU-Bürger verlieren, will man loshaben.

In der EU gäbe es dann sogar positive wirtschaft­liche Effekte: Die Rückkehrmi­gration aus dem Vereinigte­n Königreich oder die Umleitung von Migranten dürften das Wachstumsp­otenzial erhöhen. Und wenn geplante Investitio­nsprojekte auf der Insel eingestamp­ft werden, freuen sich Standorte auf dem Kontinent.

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