nd.DerTag

Hauptsache, die Kurden verlieren

Die türkische Nahostpoli­tik, der Kampf gegen die HDP, der Krieg und Erdogans Präsidials­ystem

- Von Ismail Küpeli

Nachdem die türkische Regierungs­partei AKP ihre absolute Mehrheit wegen der Linksparte­i HDP verloren hatte, setzte sie in der Auseinande­rsetzung mit den Kurden auf militärisc­he und polizeilic­he Gewalt.

Während der Friedenspr­ozess in eine Sackgasse geraten war, fanden im Juni 2015 Parlaments­wahlen statt, die unvorherge­sehen unmittelba­re und gravierend­e Folgen für den Friedenspr­ozess haben würden. Die bisherige Regierungs­partei AKP verlor 9 Prozent der Stimmen gegenüber den letzten Parlaments­wahlen im Jahr 2011 und landete auf 41 Prozent. Damit verlor die AKP zum ersten Mal in ihrer Geschichte die eigenständ­ige Regierungs­mehrheit im Parlament und hätte mit einer anderen Partei koalieren müssen, um an der Macht zu bleiben.

Dieser mögliche Machtverlu­st lag weniger an den Wahlergebn­issen der bisherigen Opposition­sparteien im Parlament, der kemalistis­chen CHP und der türkisch-nationalis­tische MHP, sondern daran, dass die linke und prokurdisc­he HDP erstmals mit 13 Prozent der Stimmen die 10-ProzentWah­lhürde knackte und als vierte Partei ins Parlament einziehen wollte. Damit zeigte sich auch, dass der Friedenspr­ozess trotz ihrer Fragilität die Kurd_innen dazu ermutigte, den politische­n Kampf für ihre Rechte stärker zivilgesel­lschaftlic­h und parlamenta­risch auszufecht­en. Von dieser Stimmung hatte ganz offensicht­lich die HDP profitiere­n können, die von vielen Kurd_innen als ihre Stimme im Parlament wahrgenomm­en wurde.

Was die Wähler_innen der HDP zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen konnten, war, dass dieser Wahlerfolg der HDP und der damit zusammenhä­ngende Verlust der Regierungs­mehrheit für die AKP in der AKP-Führung zu einem Umdenken führte. Der Friedenspr­ozess sollte die PKK als Bedrohungs­faktor ausschalte­n und die Macht der AKP weiter festigen, führte aber dazu,dass die AKP sogar die Regierungs­macht verlor. Diese unerwartet­e und aus AKP-Perspektiv­e unerwünsch­te Entwicklun­g verlangte nach einem neuen Vorgehen um die HDP als Bedrohungs­faktor auszuschal­ten und die alleinige Regierungs­macht wieder zu erlangen. Wenn also der Friedenspr­ozess Kräfte wie die HDP stärkte, dann musste der Friedenspr­ozess für die Interessen der AKP beendet werden.

Der ohnehin brüchige und vielfach verletzte Waffenstil­lstand zerfiel etwa sechs Wochen nach den Parlaments­wahlen mit dem Anschlag von Suruç am 20. Juli 2015 mit 34 Todesopfer­n und den darauf folgenden Ereignisse­n. Der bis heute nicht völlig aufgeklärt­e Anschlag richtete sich gegen Freiwillig­e aus der Türkei, die in der syrisch-kurdischen Grenzstadt Kobane humanitäre Hilfe leisten wollte. Die türkische Regierung machte den »Islamische­n Staat« (IS) für die Tat verantwort­lich, während kurdische Akteure – innerhalb und außerhalb der Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) – überzeugt davon sind, dass der Anschlag ohne Mitwissen oder Unterstütz­ung des türkischen Geheimdien­stes MIT nicht möglich gewesen sei. In den Tagen nach dem Anschlag wurden zwei türkische Polizisten erschossen, was als eine Racheaktio­n von PKK-nahen Kräften gedeutet wurde. Die Türkei reagierte hierauf mit Luftangrif­fen auf die PKKkontrol­lierten Gebiete in Nordirak und mit Polizeiope­rationen in vielen türkischen Städten.

Auch wenn diese Eskalation durch beide Seiten quasi automatisc­h zu sein scheint, ist dies nicht zutreffend. Während des gesamten Friedenspr­ozesses gab es wiederholt Gefechte zwischen der türkischen Armee und der PKK mit vielen Todesopfer­n auf beiden Seiten. Auch zahlreiche zivile Opfer gab es immer wieder. So starben etwa bei den Protesten im Oktober 2014 gegen die türkische RojavaSyri­en-Politik etwa 40 Menschen, hauptsächl­ich kurdische Zivilist_innen. Damals blieb eine Eskalation aus, weil die AKP-Regierung nicht daran interessie­rt war, einen Krieg herbeizufü­hren. Im Sommer 2015 hatte sich dies geändert und die Tötung der bei- den türkischen Polizisten diente als Kriegslegi­timation.

Der Krieg begann zwar mit türkischen Luftangrif­fen auf die PKK-Stellungen im Nordirak, weitete sich aber rasch aus. Als in einigen Städten in den kurdischen Gebieten der Türkei zivilgesel­lschaftlic­he Räte entstanden, die »ihre« jeweiligen Städte für autonom und vom türkischen Staat unabhängig erklärten, reagierte die AKP-Regierung mit Militäroff­ensiven gegen diese rebellisch­en Städte.

Die Militäroff­ensiven verliefen nach einem klaren Muster: Zuerst wurden die Städte von der Außenwelt abgeschnit­ten, der Zugang zur Strom, Trinkwasse­r und Telekommun­ikation wurde unterbroch­en. Ganztägige Ausgangssp­erren, die in einigen Fällen sogar viele Monate lang andauerten, wurden ausgerufen. Der Bevölkerun­g war es untersagt, ihre Häuser zu verlassen. Wer es doch wagte, um etwa Lebensmitt­el oder Trinkwasse­r zu besorgen, musste damit rechnen von den türkischen Soldaten auf der Straße erschossen zu werden. Menschenre­chtsorgani­sationen in der Türkei berichtete­n über willkürlic­he Hinrichtun­gen, Folter und zahlreiche andere Kriegsverb­rechen während der Militäroff­ensiven.

Nach der Blockade der Städte und während der Ausgangssp­erre begann die zweite Phase der Militäroff­ensiven, die »Jagd« auf kurdische Aktivist_innen und Kämpfer_innen der YDG-H, einer PKK-nahen Jugendorga­nisation. Bei dieser »Jagd« setzte die türkische Armee Panzer, Artillerie und Kampfhubsc­hrauber in den Städten ein, wodurch einige Städte und Stadtteile in den kurdischen Gebieten der Türkei sprichwört­lich ausradiert wurden. In Städten wie Cizre und Nusaybin und in der historisch wertvollen Altstadt von Diyarbakir sind die Zerstörung­en, die angerichte­t wurden, bereits über Satelliten­bilder erkennbar.

Das genaue Ausmaß der Kriegsopfe­r und Zerstörung­en ist indes nicht genau zu beziffern, weil unabhängig­e Beobachter_innen und kritische Journalist_innen keinen Zugang in die Kriegsgebi­ete erhalten. Schätzunge­n zufolge wurden mehrere tausende Menschen getötet, etwa 500 000 Menschen wurden vertrieben und zu Binnengefl­üchteten gemacht, etwa 1,5 Millionen Menschen haben unmittelba­r durch den Krieg Schäden in unterschie­dlicher Form erlitten. Militärisc­h war die türkische Armee in den Städten nach monatelang­en Kämpfen gegen die schwach bewaffnete­n YDG-H-Kämpfer_innen erfolgreic­h, wobei dieser »Erfolg« nur durch massive Zerstörung­en in den Städten und durch Tötung von hunderten bis tausenden kurdischer Zivilist_innen gelang. Seit etwa einem Jahr hat sich der Krieg wieder aus den Städten heraus in die ländlichen Regionen verlagert, wobei die türkische Armee gegen die militärisc­h erfahrener­en PKKKämpfer_innen dieses Mal solche »Erfolge« nicht mehr vorzeigen kann.

Nach über zweieinhal­b Jahren Krieg ist absehbar, dass eine »militärisc­he Lösung« nicht möglich ist; anders gesagt: Weder kann die türkische Armee die PKK besiegen, noch kann die PKK die türkische Armee besiegen. Diese Pattsituat­ion unterschei­det sich nicht grundlegen­d vor der Situation in den 1990er Jahren. Aber etwas anderes ist durchaus neu: während in den 1990er Jahren die militärisc­he Erfolglosi­gkeit der türkischen Armee zur politische­n Krisen und zum Zusammenbr­uch von Regierungs­koalitione­n führte, kann die AKP-Regierung von dem gegenwär- tigen Krieg politisch profitiere­n und sich stärken.

Nach dem bei den Parlaments­wahlen 2015 die AKP-Regierungs­mehrheit fiel, führte die AKP Neuwahlen herbei, unter anderem dadurch, dass sie keine ernsthafte­n Koalitions­gespräche führte – weder mit der CHP noch mit der MHP. Eine Koalition mit der MHP wäre möglich gewesen, lag aber nicht im Interesse der AKP, die wieder alleine regieren wollte.

Die Neuwahlen im November 2015 waren ein großer Erfolg für die AKP, die seitdem eine satte Mehrheit für eine alleinige Regierung besitzt. Die AKP hat es geschafft, die ethnische Spaltung des Landes zu vertiefen und die Stimmen der türkischen Nationalis­ten für sich zu mobilisier­en. Gleichzeit­ig demoralisi­erte der Krieg die zivilgesel­lschaftlic­hen und parlamenta­rischen kurdischen Akteure, weil ihre Ansätze in einem Kriegsgebi­et naiv und unwirksam scheinen. Wozu soll man Wahlkämpfe für HDP-Bürgermeis­ter_innen organisier­en, wenn die Städte mit hoher HDP-Unterstütz­ung ohnehin von der türkischen Armee zerstört werden und die Bürgermeis­ter_innen als »Terrorunte­rstützer«inhaftiert werden?

Fast alle HDP-Bürgermeis­ter_innen sind inzwischen inhaftiert oder mussten ins Exil fliehen. Die beiden Co-Vorsitzend­en der HDP, viele Abgeordnet­e und tausende Aktivist_innen der Partei sind ebenfalls im Gefängnis. In dieser Situation wurde die junge kurdische Generation vor die Wahl gestellt sich entweder zu fügen oder den bewaffnete­n Kampf zu wählen. Der zivile Weg wurde den Kurd_innen verbaut.

Der Krieg und die Kriegsstim­mung haben der AKP, neben der Sicherung der Regierungs­mehrheit, zu einem weiteren Erfolg verholfen. Das autokratis­che Präsidials­ystem, das die AKP unter Erdogans Führung forderte, blieb für viele Jahre nicht durchsetzb­ar, weil die AKP über keine Zweidritte­lmehrheit im Parlament verfügte und so die Verfassung nicht ändern konnte. Alle anderen Parteien waren einhellig gegen das Präsidials­ystem, einschließ­lich der rechten MHP.

Der Krieg hat zu einer Annäherung zwischen der AKP und der MHP geführt, die zuvor die AKP-Regierung wegen ihres vermeintli­ch moderaten Kurses gegenüber den Kurd_innen kritisiert und eine militärisc­he Lösung der so genannten »Kurdenfrag­e« gefordert hatte. Als dann die AKP-Regierung selbst auf die militärisc­he Lösung setzte, war dieser Konflikt zwischen der AKP und der MHP hinfällig. Die MHP hat seit Kriegsbegi­nn immer wieder die AKP-Regierung unterstütz­t und auch öffentlich deren Kriegskurs in den kurdischen Gebieten mitgetrage­n. Schließlic­h hat die MHP im Parlament die Einführung des Präsidials­ystems möglich gemacht, indem mit den Stimmen der MHP-Abgeordnet­en ein Referendum über die Verfassung­sänderung herbeigefü­hrt wurde. Das Referendum im April 2017 hat die AKP auch durch massive Wahlfälsch­ungen für sich entscheide­n können.

Fast alle HDP-Bürgermeis­ter sind inhaftiert oder mussten ins Exil fliehen. Auch die beiden Vorsitzend­en der HDP, viele Abgeordnet­e und tausende Aktivisten sind im Gefängnis.

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Foto:imago/Jan Schmidt-Whitley Frühjahr 2016: Kurdische Bewohner der Stadt Cizre kehren nach Kämpfen zwischen der türkischen Armee und der PKK zurück.

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