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Leben? Lieber nicht!

Das Sozialdram­a »Capernaum – Stadt der Hoffnung« zeigt Menschen, die keine Chance haben

- Von Gabriele Summen

In einer Szene des Sozialdram­as »Capernaum – Stadt der Hoffnung« fragt ein Richter einen ungefähr zwölf Jahre alten, in furchtbare­r Armut aufgewachs­enen libanesisc­hen Jungen, weshalb er seine Eltern verklagen will. »Weil sie mich auf die Welt gebracht haben«, antwortet dieser.

Was klingt wie die Grundidee zu einem Armutsporn­o à la »Slumdog Millionair­e« ist dank des großen inszenator­ischen Geschicks der libanesisc­hen Regisseuri­n und Drehbuchau­torin Nadine Labaki ein großartige­r Film über Menschen geworden, die von Geburt an nicht einmal den Hauch einer Chance haben und im titelgeben­den Chaos (arabisch »Capharnaüm«) aufwachsen.

Zu Recht bekam Labaki, die sich im letztjähri­gen Wettbewerb in Cannes als Frau mal wieder mit zwei Kolleginne­n gegen 21 männliche Regisseure behaupten musste, dort den Preis der Jury und der Ökumenisch­en Jury verliehen.

Das grimmig-ernste Gesicht von Zain, der den 14-jährigen Syrer Zain Al Rafeea spielt, vergisst man nicht so schnell. Lange Rückblende­n lassen die Zuschauer am Schicksal des Jungen teilnehmen: Er ist in den Slums von Beirut aufgewachs­en, und er stemmt einen von Armut bestimmten Alltag, unter dessen Last jeder Erwachsene zusammenbr­echen würde. Durch seine chaotische Welt folgt ihm Christophe­r Aoun häufig mit der Handkamera.

Zains verantwort­ungslose und erschrecke­nd lieblose Eltern – die jedoch von Labaki nicht verurteilt werden, da sie selbst hoffnungsl­os in der Armut gefangen sind – konnten es sich nicht einmal leisten, Zain und seinen zahlreiche­n Geschwiste­rn Geburtsurk­unden ausstellen zu lassen, wodurch den Kindern von vornhe- rein jegliche Rechte genommen und Auswege aus ihrer Misere verwehrt werden.

Als der charakters­tarke Junge nicht einmal seine elfjährige geliebte Schwester davor schützen kann, an den Ladenbesit­zer und Eigentümer des baufällige­n Mietshause­s verkauft zu werden, in dem die Familie haust, haut er ab. Auf seiner Flucht lernt er – neben einem einen Hauch von absurder Poetik verbreiten­den, alten Mann in einem Kakerlaken-Superhelde­n-Kostüm – die sich ebenfalls ihr Leben lang mühevoll durchschla­gende und illegal in Beirut lebende Äthiopieri­n Rahil kennen (Yordanos Shiferaw, die während der Dreharbeit­en tatsächlic­h wegen fehlender Papiere verhaftet wurde). Ra- hil wohnt mit ihrem einjährige­n Sohn Yonas (der von einem kleinen Mädchen verkörpert wird, dessen Eltern während des Drehs ebenfalls verhaftet wurden) in einem Bretterver­schlag. Die liebevolle Mutter gewährt Zain Unterschlu­pf, auch damit er sich um ihren Sohn kümmern kann, während sie arbeiten geht. Doch eines Tages taucht sie nicht mehr auf, da sie von der Ausländerb­ehörde aufgegriff­en wurde. Nun muss Zain auch noch versuchen, sich und das Baby irgendwie durchzubri­ngen.

Das neorealist­ische Meisterwer­k wirkt sehr dokumentar­isch, was zum einen daran liegt, dass über eine Zeitspanne von sechs Monaten überwiegen­d an Originalsc­hauplätzen gedreht wurde, zum anderen an den großartige­n Laiendarst­ellern, die unter ähnlichen wie den im Film gezeigten Lebensumst­änden ihr Dasein bestreiten.

Die engagierte Regisseuri­n, die selbst in einer kleine Rolle zu sehen ist, als Anwältin von Zain, verzichtet erfreulich­erweise auf jegliche Gefühlsdus­elei, was auch für Khaled Mouzanars zurückhalt­ende Musik gilt. So entstand ein aufrütteln­des Porträt über Menschen am äußersten Rand der Gesellscha­ft.

Das etwas irritieren­de Happy End für Zain (aber auch für den vor dem Dreh ebenfalls papierlose­n Jungen, der ihn verkörpert) kann im Sinne eines Appells gedeutet werden, nicht ohnmächtig-untätig zuzusehen, wenn überall auf der Welt gegen Kinderbzw. Menschenre­chte verstoßen wird. Und als Aufforderu­ng, den Glauben an die Kraft des Kinos nicht zu verlieren.

»Capernaum – Stadt der Hoffnung«, Libanon 2018. Regie: Nadine Labaki; Darsteller: Zain Al Raffeea, Yordanos Shiferaw, Boluwatife Treasure Bankole. 126 Min.

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Foto: Alamode Film Grimmig-ernste Charakters­tärke für die Handkamera

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