Leben? Lieber nicht!
Das Sozialdrama »Capernaum – Stadt der Hoffnung« zeigt Menschen, die keine Chance haben
In einer Szene des Sozialdramas »Capernaum – Stadt der Hoffnung« fragt ein Richter einen ungefähr zwölf Jahre alten, in furchtbarer Armut aufgewachsenen libanesischen Jungen, weshalb er seine Eltern verklagen will. »Weil sie mich auf die Welt gebracht haben«, antwortet dieser.
Was klingt wie die Grundidee zu einem Armutsporno à la »Slumdog Millionaire« ist dank des großen inszenatorischen Geschicks der libanesischen Regisseurin und Drehbuchautorin Nadine Labaki ein großartiger Film über Menschen geworden, die von Geburt an nicht einmal den Hauch einer Chance haben und im titelgebenden Chaos (arabisch »Capharnaüm«) aufwachsen.
Zu Recht bekam Labaki, die sich im letztjährigen Wettbewerb in Cannes als Frau mal wieder mit zwei Kolleginnen gegen 21 männliche Regisseure behaupten musste, dort den Preis der Jury und der Ökumenischen Jury verliehen.
Das grimmig-ernste Gesicht von Zain, der den 14-jährigen Syrer Zain Al Rafeea spielt, vergisst man nicht so schnell. Lange Rückblenden lassen die Zuschauer am Schicksal des Jungen teilnehmen: Er ist in den Slums von Beirut aufgewachsen, und er stemmt einen von Armut bestimmten Alltag, unter dessen Last jeder Erwachsene zusammenbrechen würde. Durch seine chaotische Welt folgt ihm Christopher Aoun häufig mit der Handkamera.
Zains verantwortungslose und erschreckend lieblose Eltern – die jedoch von Labaki nicht verurteilt werden, da sie selbst hoffnungslos in der Armut gefangen sind – konnten es sich nicht einmal leisten, Zain und seinen zahlreichen Geschwistern Geburtsurkunden ausstellen zu lassen, wodurch den Kindern von vornhe- rein jegliche Rechte genommen und Auswege aus ihrer Misere verwehrt werden.
Als der charakterstarke Junge nicht einmal seine elfjährige geliebte Schwester davor schützen kann, an den Ladenbesitzer und Eigentümer des baufälligen Mietshauses verkauft zu werden, in dem die Familie haust, haut er ab. Auf seiner Flucht lernt er – neben einem einen Hauch von absurder Poetik verbreitenden, alten Mann in einem Kakerlaken-Superhelden-Kostüm – die sich ebenfalls ihr Leben lang mühevoll durchschlagende und illegal in Beirut lebende Äthiopierin Rahil kennen (Yordanos Shiferaw, die während der Dreharbeiten tatsächlich wegen fehlender Papiere verhaftet wurde). Ra- hil wohnt mit ihrem einjährigen Sohn Yonas (der von einem kleinen Mädchen verkörpert wird, dessen Eltern während des Drehs ebenfalls verhaftet wurden) in einem Bretterverschlag. Die liebevolle Mutter gewährt Zain Unterschlupf, auch damit er sich um ihren Sohn kümmern kann, während sie arbeiten geht. Doch eines Tages taucht sie nicht mehr auf, da sie von der Ausländerbehörde aufgegriffen wurde. Nun muss Zain auch noch versuchen, sich und das Baby irgendwie durchzubringen.
Das neorealistische Meisterwerk wirkt sehr dokumentarisch, was zum einen daran liegt, dass über eine Zeitspanne von sechs Monaten überwiegend an Originalschauplätzen gedreht wurde, zum anderen an den großartigen Laiendarstellern, die unter ähnlichen wie den im Film gezeigten Lebensumständen ihr Dasein bestreiten.
Die engagierte Regisseurin, die selbst in einer kleine Rolle zu sehen ist, als Anwältin von Zain, verzichtet erfreulicherweise auf jegliche Gefühlsduselei, was auch für Khaled Mouzanars zurückhaltende Musik gilt. So entstand ein aufrüttelndes Porträt über Menschen am äußersten Rand der Gesellschaft.
Das etwas irritierende Happy End für Zain (aber auch für den vor dem Dreh ebenfalls papierlosen Jungen, der ihn verkörpert) kann im Sinne eines Appells gedeutet werden, nicht ohnmächtig-untätig zuzusehen, wenn überall auf der Welt gegen Kinderbzw. Menschenrechte verstoßen wird. Und als Aufforderung, den Glauben an die Kraft des Kinos nicht zu verlieren.
»Capernaum – Stadt der Hoffnung«, Libanon 2018. Regie: Nadine Labaki; Darsteller: Zain Al Raffeea, Yordanos Shiferaw, Boluwatife Treasure Bankole. 126 Min.