Leben nach der Kohle rückt näher
Die Kumpel im Mitteldeutschen Revier bei Leipzig hoffen, nicht als erste vom Kohleausstieg betroffen zu sein
Der Kohleausstieg kommt – aber im Osten nicht sofort. Darauf hoffen die Kumpel im Leipziger Revier, die zudem konkretere Zusagen für die Zeit nach der Kohle erwarten.
Am Rand der Grube wachsen Sonnenblumen. Im Sommer haben sie dem Grau, Braun und Schwarz der Kohleflöze und Abraumhalden im Tagebau Profen ein kräftiges Gelb entgegengesetzt. Jetzt, im Winter, passen sie sich der Tristesse der Umgebung an: braune Stängel, verdorrte Köpfe. Immerhin: Sie besiedeln eine Fläche, die zuvor wie tot wirkte; aufgefüllt mit Abraum, unter dem zuvor alle Kohle herausgeholt worden war. Die Saat soll helfen, den aufgeschütteten Boden so zu verbessern, dass Bauern ihn wieder als Acker nutzen können. Die Blumen sind gewissermaßen der Beweis, dass es ein Leben nach der Braunkohle gibt.
Über das Leben nach der Kohle muss auch Carsten Preuß jetzt nachdenken – ungewollt. Er arbeitet bei der Mitteldeutschen Braunkohlengesellschaft mbH (Mibrag), die den Tagebau Profen betreibt und von dort Kohle an Kraftwerke etwa in Schkopau und Chemnitz liefert. Solche Anlagen werden in Deutschland allerdings in absehbarer Zukunft abgeschaltet; so sieht es eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission »Wachstum, Strukturwandel, Beschäftigung« vor. Als »Abschlussdatum« für die Kohleverstromung empfiehlt sie auf Seite 64 ihres knapp 300 Seiten langen Abschlussberichts das »Ende des Jahres 2038«. Preuß ist jetzt 43. Im Jahr, in dem das letzte deutsche Kohlekraftwerk vom Netz geht, wird er für die Rente noch zu jung sein, aber, sagt er, auf dem Arbeitsmarkt auch nicht mehr zu den Begehrten gehören. Womöglich wird sein Tagebau zudem früher geschlossen: »Da wird mir schon mulmig.«
Preuß ist kein Kumpel von Anfang an. Er hat einen Handwerksberuf gelernt, das Abitur abgelegt und in Leipzig Geologie studiert; 2008 kam er zur Mibrag. Im Tagebau ist er »Abteilungssteiger Großgeräte«: Chef einer Mannschaft, die sieben große Bagger, zwei sogenannte Absetzer und 45 Kilometer Bandanlagen betreibt und in Schuss hält. Nicht wenige seiner Kollegen sind jünger als er. Nachdem viele altgediente Kumpel zuletzt in Rente gingen, besteht die Belegschaft der Mibrag, die insgesamt 2700 Beschäftigte hat, inzwischen zu 43 Prozent aus Unter-Vierzigjährigen, sagt Volker Jahr, der Chef des Betriebsrates. Viele von ihnen haben Familien, ein Haus gebaut und sind in den Orten und Vereinen der Region verwurzelt. Zwar gebe es im Moment »keinen Grund, das Unternehmen zu verlassen«, betont Jahr: Das Licht im Kraftwerk Schkopau und damit auch im Tagebau Profen geht nicht heute aus und auch noch nicht morgen. Die Frage aber, ob es jetzt zur Abwanderung von Fachkräften kommt oder ob die Lehrstellen bei der Mibrag noch genauso begehrt sein werden wie bisher, ist im Unternehmen ebenso zu hören wie die nach der Zukunft derjenigen, die im Betrieb bleiben. »Um die Jüngeren«, sagt Steiger Preuß, »mache ich mir schon Sorgen.«
Um Antworten zu finden, bleibt aller Voraussicht nach noch etwas Zeit. In den Tagen, nachdem die Kohlekommission ihren Bericht vorgelegt hatte, habe es viel Unklarheit und daher viele erregte Debatten unter den Beschäftigten gegeben, sagt Jahr. Seit einer Belegschaftsversammlung in der vorigen Woche mit Michael Vassiliadis, dem Chef der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) und Mitglied der Kohlekommission, seien »die Jungs etwas beruhigt«, fügt der Betriebsratschef an. Sie müssen nicht davon ausgehen, dass die hiesigen Kraftwerke zu den allerersten gehören, die vom Netz gehen. Zwar gebe es im Bericht »keine Kraftwerksliste«, sagt Armin Eichholz, Chef der Mibrag-Geschäftsführung. Es gibt jedoch indirekte Indizien. Die Politik in Nordrhein-Westfalen bereite die Region bereits auf Schließungen vor; in Sachsen und Sachsen-Anhalt ist das nicht der Fall. Ob der Tagebau Profen tatsächlich wie geplant bis 2035 laufen kann und die zweite Grube der Mibrag, der für die Versorgung des Kraftwerkes Lippendorf zuständige Tagebau Vereinigtes Schleenhain, gar bis 2038, ist zwar offen. Aber, glaubt Jahr, »wir werden jedenfalls im ersten Schritt nicht betroffen sein«.
Wenn es so wäre, läge das vermutlich nur zum Teil daran, dass die von der Mibrag belieferten Kraftwerke nicht zu den ineffizientesten und denen mit dem höchsten Ausstoß an Klimagasen gehören; vom Netz genommen werden zunächst die größten Dreckschleudern. Daneben dürften politische Erwägungen eine nicht unmaßgebliche Rolle spielen. Anders als das Rheinische Revier haben die beiden Reviere in Ostdeutschland schon einen dramatischen Strukturbruch erlebt. Zum Ende der DDR seien allein im Südraum Leipzig 57 000 Menschen in der Kohle beschäftigt gewesen, sagt Jahr, der selbst 1977 in der seither stillgelegten Brikettfabrik Espenhain angefangen hatte. Für die übergroße Mehrheit seiner Kollegen war praktisch von heute auf morgen Schluss. Manche von ihnen hatten zwar noch ein paar Jahre lang das zweifelhafte Vergnügen, ihre vormaligen Arbeitsstätten abzureißen. Abgesehen von solchen Beschäftigungsmaßnahmen, sagt der Betriebsrat, »gab es aber keine Programme und keine Puffer«. Es war ein Bruch, von dem sich die Region bis heute nicht wirklich erholt hat, der zu Abwanderung in großem Umfang führte und den viele Beteiligte noch immer als traumatisch in Erinnerung haben – zumal manchen von ihnen nicht nur die Arbeitsstelle genommen, sondern auch der Lohn für die jahrelange Plackerei verwehrt wurde: Einige Initiativen streiten auch fast 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung vergebens um die Anerkennung ihrer Bergbaurenten.
Diesmal, so nimmt es der Chef des Betriebsrates wahr, scheint es zumindest den politischen Willen zu geben, es besser zu machen – was längst nicht nur im Umstand begründet sein mag, dass in zwei der ostdeutschen Kohleländer, Sachsen und Brandenburg, in diesem Herbst neue Landtage gewählt werden. »Man hat erkannt, dass es einen solchen Bruch nicht noch einmal geben darf«, sagt Jahr – der aber auch anmerkt, dass bisher viele gute Absichten bekundet wurden, aber noch nichts Konkretes beschlos- sen ist. Im Abschlussbericht der Kohlekommission heißt es zum Mitteldeutschen Revier, dieses solle künftig Teil einer Region sein, die »zu den führenden« in Mitteleuropa zählt. Zwischen Leipzig und Zeitz solle eine »Modell- und Laborregion« entstehen, in der »Technologien, Produkte und Dienstleistungen für das Leben von morgen entwickelt und erprobt werden«. Verwiesen wird auf Entwicklungen im Automobil- und Logistiksektor, in der Chemie oder der Digitalisierung. Bisher ist das freilich politische Lyrik. In der Region wird gespannt beobachtet, ob daraus mehr wird als Absichtsbekundungen. Details, betont Mibrag-Chef Eichholz, müssten Bund und Länder in Ausführungsgesetzen festschreiben.
Bisher immerhin liefert die Politik: Nur Tage, nachdem die Kohlekommission das Ausstiegsdatum bekannt gegeben hatte, wurde die Ansiedlung einer Cyberagentur des Bundes in der Region um das bisherige Mitteldeutsche Revier verkündet. Allerdings stehen die Arbeitsplätze der dort künftig tätigen 100 IT-Experten gegen 2700 Jobs in der Kohle und mindestens doppelt so viele bei Handwerkern und Dienstleistern. »Erfolg- reicher Strukturwandel«, sagt Eichholz, sei ohnehin »nur auf Basis eines industriellen Kerns« denkbar. Volker Jahr fügt an: »Wer gut bezahlte Arbeitsplätze vernichtet, muss neue gut bezahlte Arbeitsplätze schaffen.« Wo die entstehen, ist bisher ebenso offen wie Regelungen für die Bergleute, die nicht mehr in andere Berufe wechseln. Ein »Anpassungsgeld Braunkohle« schlägt die Kohlekommission vor. Jahr nennt Abfindungsregelungen aus dem Steinkohlenbergbau als Vorbild. Über Details sprechen wolle er noch nicht, fügt er an: »Dafür ist es dann doch noch etwas zu früh.«
Auch Carsten Preuß muss sich noch nicht heute oder morgen den Kopf zerbrechen über seine berufliche Zukunft. Noch gilt es für ihn, einige Jahre lang die Anlagen im Tagebau am Laufen zu halten: die großen Bagger, die sich tief unten in der Grube in die Flöze fressen, oder Förderbänder wie das, von dem Kohle auf eine riesige Halde am sogenannten Kohlemischund -stapelplatz rieselt. Die 124 Millionen Tonnen Kohle, die im Tagebau Profen noch unter der Erde liegen, werden vermutlich komplett gefördert und in Kraftwerken verfeuert. Erst dann geht im Mitteldeutschen Revier eine Geschichte zu Ende, die vor 220 Jahren mit der Erschließung von neuen Brennstoffquellen für die Salinen in der Region ihren Anfang nahm; die mit Großtagebauen und der Abbaggerung zahlreicher Dörfer seither deren Gesicht gründlich verändert hat – und die, wenn es nach den Kumpeln geht, noch eine Weile hätte weiterlaufen können. »Was jetzt entschieden wurde, halte ich für überhastet«, sagt Preuß: »Man macht den dritten Schritt vor dem ersten.«
Das klingt keinesfalls überzeugt; es wirkt allerdings auch nicht, als sage Preuß solche Sätze mit geballter Faust in der Tasche. Man wird, so der Eindruck, jetzt abwarten im Revier – und genau hinschauen, ob die versprochenen Milliarden tatsächlich fließen und ob sie etwas bewirken: neue Jobs, Betriebe, Forschungsinstitute, Straßen. Ob also nach der Kohle tatsächlich mehr kommt als Sonnenblumen auf Kippengelände. Und wenn nicht? Das mag man sich nicht vorstellen. Die Belegschaft sei »für den Moment beruhigt«, hat Betriebsratschef Volker Jahr gesagt. Aber eben auch nur für den Moment.
Als nach 1990 Gruben und Kraftwerke im Leipziger Revier dicht gemacht wurden, gab es »keine Puffer«, sagt der Betriebsratschef: »Einen solchen Bruch darf es nicht noch einmal geben.«