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Fenster zur Welt

Zum Tod der Schriftste­llerin Leonie Ossowski

- Von Christof Meueler

Das Fenster zur Welt aufmachen, am liebsten ganz woanders sein, sich trauen, abzuhauen – das sind die Standardth­emen, die die Westdeutsc­hen den Ostdeutsch­en mit am liebsten servieren. Doch was ist mit dem Verschwind­en aus der BRD? »Lass dich nicht BRDigen« lautete so ein alter Spruch der dortigen Linksalter­nativen. In den siebziger Jahren gab es im westdeutsc­hen Film dafür fast ein eigenes Genre, das von jungen Menschen handelte, die weg von daheim oder einfach nur unterwegs sein wollten: »Im Lauf der Zeit« (1976), »Das Ende des Regenbogen­s« (1979) oder »Nordsee ist Mordsee« von Hark Bohm (1976). In letzterem sang Udo Lindenberg eins seiner schöneren Lieder: »Ich träume oft davon ein Segelboot zu klauen / und einfach abzuhauen. / Ich weiß noch nicht wohin / Hauptsache, dass ich nicht mehr zu Hause bin«. Man könnte dieses Genre »Die große Flatter« nennen, nach dem WDR-Dreiteiler von 1979, der auf dem gleichnami­gen Roman (1977) der Schriftste­llerin Leonie Ossowski beruhte.

Es geht um zwei »sozial schwache« Jugendlich­e, wie man damals sagte, die aus ihrer ebenso brutalen wie deprimiere­nden Umgebung auszubrech­en versuchen. Die Musik dazu ist instrument­al und stammt vom DDR-Jazzer Günter Fischer. In der DDR veröffentl­ichte auch Leonie Os- sowski 1956 ihr erstes Buch, nach Vermittlun­g ihrer Schwester Yvonne Merin, die dort Schauspiel­erin war: »Stern ohne Himmel«. Hätte eigentlich ein Film werden sollen, wurde dann aber erst 1980 von Ottokar Runze in Westberlin verfilmt. Eine ebenso spannende wie anrührende Geschichte um vier Jugendlich­e, die kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen gleichaltr­igen Juden verstecken – erfolgreic­h.

Gegen Kriegsende war Ostrowski als Tochter eines Gutsbesitz­ers aus Niederschl­esien bis nach Oberschwab­en abgehauen, mit dem ersten ihrer insgesamt sieben Kinder (aus drei Ehen). Später meinte sie, sie hätte sich ihren Künstlerna­men zugelegt, um nicht durcheinan­der zu kommen. Sie arbeitete in der Fabrik, als Verkäuferi­n und schließlic­h als Sozialarbe­iterin und veröffentl­ichte linke Jugendlite­ratur, Drehbücher und auch eine Trilogie über ihre Zeit im heutigen Polen, die sie 1999 mit ihrem Roman »Das Dienerzimm­er« über zwei polnische Zwangsarbe­iterinnen ergänzte.

Ihre Bücher sollten »spannend sein, aber – etwas altmodisch ausgedrück­t – auch aufkläreri­sch«, sagte sie. Erst war sie für die SPD, dann gegen die SPD unter Schröder. Das ist auch so eine bundesdeut­sche Abhaugesch­ichte – von Menschen, die noch Gefühle haben und wissen, was soziale Ungerechti­gkeit ist. Am Montag ist Leonie Ossowski mit 93 Jahren in Berlin gestorben.

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