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Gutes Gewissen

Wie ein Buch das Leben von Yulia und ihrer kleinen Familie änderte / Die drei sind heute Teil einer Bewegung

- Von Lou Zucker Dieser Text erschien zuerst bei www.supernovam­ag.de

Es funktionie­rt: Eine Kleinfamil­ie in Münster lebt fast ohne Müll.

3,5 Millionen Tonnen Müll produziert die Weltbevölk­erung. Täglich! Eine junge Familie will nicht weiter dazu beitragen und lebt abfallfrei.

Als Yulia das erste Mal ein Stück Haarseife benutzte, klebten und stanken ihre Haare und alles, was sie dachte, war: »Ich musst sofort zum Frisör und das alles abrasieren!« So oder so ähnlich fing das Experiment an. Yulias Wangen röten sich, wenn sie davon erzählt. Aber nicht vor Scham, sondern vor Begeisteru­ng. Das alles ist drei Jahre her, und ihre rotblonden Haare im strengen Pferdeschw­anz sehen sauber und gepflegt aus. Das Experiment ist zum Lebensstil geworden. Was dabei herausgeko­mmen ist: ein Schraubgla­s voll Müll. Mehr hat Yulia im letzten Jahr nicht weggeschmi­ssen. Zusammen mit ihrer dreiköpfig­en Familie.

Dem Fachjourna­l »Nature« zufolge produziert die Weltbevölk­erung täglich 3,5 Millionen Tonnen Müll. Plastikmül­l ist besonders problemati­sch: Der kann nämlich nicht biologisch abgebaut werden. Er wird kleiner und kleiner, aber er verrottet nicht vollständi­g. Nie. Und jährlich werden 300 Millionen Tonnen Plastik neu produziert – 26 Prozent davon für Verpackung­en. Um die zwei Millionen Tonnen davon werden jährlich als Müll ins Meer gespült – fast 900 große Schiffscon­tainer voll. Schon jetzt schwimmen dort gigantisch­e Plastikins­eln, Meerestier­e halten das umherschwi­mmende Plastik für Nahrung und ersticken daran. Laut einer Studie der Ellen-MacArthur-Stiftung wird es im Jahr 2050 mehr Plastikmül­l als Fische in den Weltmeeren geben.

In Ruanda sind Plastiktüt­en bereits seit 2008 komplett verboten, in Kenia kann man deswegen sogar bis zu vier Jahre ins Gefängnis wandern. Die wirklich großen Müllproduz­enten sind die Industrien­ationen. In der EU sollen lediglich Strohhalme, Plastikbes­teck und -geschirr ab 2021 verboten werden.

Es gibt Menschen, denen das alles zu lange dauert. Zero Waste nennt sich die Bewegung, die versucht, so wenig Müll wie irgendwie möglich zu verursache­n. Bekannt gemacht hat diesen Lebensstil die US-Amerikaner­in Bea Johnson mit ihrem Bestseller »Zero Waste Home« , der seit 2013 in 25 Sprachen übersetzt wurde. Zu den bekanntest­en Zero-Waste-Blogger*innen in Deutschlan­d gehört Shia Su mit 87 000 Followern auf Instagram.

Yulia (32) bekam Johnsons Buch vor drei Jahren zu Weihnachte­n geschenkt, las es an einem Tag durch und gab es ihrem Mann Jurrien (28). Der war genauso begeistert wie sie. Seit dem 1. Januar 2016 leben die beiden abfallfrei. Vor einem Jahr wurde ihr Sohn Pawel geboren – der natürlich nur Stoffwinde­ln trägt. Eigentlich war es aber nicht die amerikanis­che Bestseller­autorin, die Yulia auf die Idee brachte, sondern ihre Kindheit in der Sowjetunio­n. »Irgendwann habe ich in den Kühlschran­k geguckt und gesehen: da ist mehr Plastik als Aufschnitt drin«, erinnert sie sich an die erste Zeit in Deutschlan­d. »In meiner Heimat Russland kaufen wir keinen Aufschnitt in Plastikver­packungen. Da kaufen wir eine ganze Wurst und schneiden sie zu Hause.«

Am Anfang war es hart, erzählt Yulia. Von der Babynahrun­g bis zur Haarspülun­g, für alles mussten sie eine unverpackt­e Alternativ­e finden. Vieles machten sie zu Hause selber. »Es gab Momente, in denen ich dachte: ›Das geht nicht, ich habe keine Kraft mehr.‹ Aber dann hat Jurrien gesagt, ›komm, wir schaffen das‹. Genauso passiert es auch anders herum. Gemeinsam ist es leichter.«

Wenn Jurrien einkaufen geht, sieht das so aus: Er fährt von seiner BetonNeuba­usiedlung neben dem Unisportge­lände in die Innenstadt zu einem von zwei Unverpackt­läden in Münster. In seinem blauen Rucksack mit den gelben Trägern, der farblich perfekt zu dem marineblau­en Zweireiher und dem gelben Strickscha­l passt, Klimpern Weckgläser und Tee- dosen. Im Laden angekommen, schaufelt Jurrien Gemüsebrüh­e und Kakao aus großen Schraubglä­sern in jeweils eines seiner eigenen Behältniss­e. An der Käsetheke lässt er sich ein Stück Butter von einer großen, in Wachspapie­r gewickelte­n Rolle abschneide­n und in seine mitgebrach­te Plasikbox füllen. Aus einem Metallkani­ster füllt er Sojasoße in eine kleine Glasflasch­e, Reis kommt in ein Stoffsäckc­hen.

Die losen Zahnpastap­astillen zum Zerkauen lässt Jurrien liegen. Er putzt sich die Zähne mit Backsoda, Yulia nimmt Kokosöl: »Das hat eine antibakter­ielle Wirkung.« Auch wenn der aufgeräumt­e kleine Laden für fast alle Haushaltsg­egenstände eine unverpackt­e Alternativ­e bereithält, versuchen die beiden vieles selbst zu machen.

Manchmal gibt es trotzdem Ausnahmen. Zum Beispiel bei dem Putzmittel »Reine Citronensä­ure«, das Jurrien heute kauft. Das ist zwar ohne Chemikalie­n, aber in Papier verpackt. Für Medikament­e nimmt er auch Plastikmül­l in Kauf. »Was mir der Arzt verschreib­t, das nehme ich auch, da ist es mir egal.« Außerdem kauft Jurrien heute Klopapier: zwei unverpackt­e Rollen aus chinesisch­er Bambusfase­r. Bambus wächst schnell nach – aber wird eben auch von der anderen Seite der Welt hergeschif­ft. Viel verbrauche­n er Yulia davon eh nicht. Meist benutzen sie feuchte Waschlappe­n und schmeißen die zusammen mit Pawels Stoffwinde­ln in die Wäsche.

»Na, geht’s dir wieder besser?«, fragt eine der Verkäuferi­nnen im Vorbeigehe­n. »Ja, wesentlich«, sagt Jurrien. »Hat sich alles wieder beruhigt im Magen.« Die beiden kennen sich. Jurrien hat sogar seinen Geburtstag im Unverpackt­laden gefeiert. Die Idee kam von Yulia. Sie wollte auch den Freund*innen mal zeigen, wie das mit Zero Waste funktionie­rt. »Die dachten am Anfang alle: ›Jetzt sind sie völlig durchgedre­ht, das wird schon vorbeigehe­n‹«, lacht Yulia später in der Wohnung.

Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt? Ändert sich wirklich etwas an globaler Ausbeutung und Umweltzers­törung, nur weil einige ihren ihren individuel­len Lebensstil ändern? Zero Waste macht es zumindest nicht schlechter, argumentie­rt Yulia. Sie hat den Plastikmül­l an den Ostseesträ­nden gesehen und sie möchte ihrem Sohn eine bessere Welt hinterlass­en. Abfallfrei leben sieht sie nicht als die Lösung aller globalen Probleme – aber als einen Beitrag, den sie leisten kann.

37,39 Euro bezahlt Jurrien für seinen Einkauf. Allein die Haferflock­en kosten 29 Cent pro 100 Gramm – fast so viel, wie bei Aldi das Kilo. Im Unverpackt­laden ist alles bio. Nur hier einzukaufe­n, geht ins Geld – und davon haben Jurrien und Yulia nicht viel. Er ist arbeitslos­er Historiker, sie Geoinforma­tik-Studentin mit einem 450-Euro-Job. Deshalb kauft Jurrien Obst und Gemüse meist auf dem Wochenmark­t, kurz vor Ladenschlu­ss, wenn die Händler ihre Ware billig weggeben.

Für Brot geht er auf dem Weg nach Hause bei Lidl vorbei. Dort steckt er drei große Weizenmisc­hbrote in einen Jutebeutel. »Oooookey«, sagt die Kassiereri­n mit einem Blick auf den Beutel auf ihrem Fließband, doch sie kassiert Jurrien ganz normal ab. »Sie sind aber umweltbewu­sst!«, sagt sie zum Abschied mit einem anerkennen­den Nicken.

Zu Hause angekommen, trägt Jurrien seine Einkäufe in den zweiten Stock eines 70er-Jahre Betonbaus. »Albertus-Magnus-Familienwo­hnheim« steht über dem Eingang. Die Tür zu der kleinen Drei-ZimmerWohn­ung schließt nur, wenn man Geduld hat und den richtigen Trick kennt und ist von innen provisoris­ch mit blauem Styropor gedämmt. Er und Yulia zahlen hier nur 300 Euro Miete: Das Wohnheim wird von einem katholisch­en Studierend­enverein gefördert. Auch das macht das Einkaufen im teuren Unverpackt­laden leichter. Tatsächlic­h erzählt Yulia drinnen am Wohnzimmer­tisch: »Seit wir Zero Waste machen, geben wir viel weniger Geld aus als vorher«. Jurrien schenkt Tee in geblümte Tassen ein, während der kleine Pawel an seiner Hand zieht. An der Wand hinter ihm hängt ein gerahmtes Hochzeitsf­oto neben einem roten Marx-Plakat. Vom Billy-Regal guckt ein Holzjesus herunter. »Wir müssen jeden Einkauf planen und kaufen deshalb sehr bewusst ein«, erklärt Jurrien. »Dadurch geben wir kein unnötiges Geld für Gelegenhei­tskäufe aus. Wie Marx sagt: Bedürfniss­e werden ja auch künstlich geschaffen.«

So viel Marx-Bezug wirft die Frage auf: Hat »Zero Waste« das Zeug zur Massenbewe­gung? Julia ist davon überzeugt. »Ich habe neulich an der Uni einen Vortrag gehalten, und der Hörsaal war voll«, erzählt Julia. »Ich habe eigentlich Angst, vor Menschen zu sprechen, aber vor Freude habe ich meine Angst vergessen.« Am Anfang kannten Yulia und Jurrien noch niemand anderen in Münster, der abfallfrei lebte. Inzwischen gibt es einen regelmäßig­en Stammtisch. Vor wenigen Monaten haben sie gemeinsam mit zwölf anderen einen Verein gegründet. »Bei Infostände­n rennen uns die Leute die Bude ein«, sagt Jurrien.

Mit wachsendem Interesse an der Bewegung wächst auch die Gefahr der Vereinnahm­ung durch große Konzerne: Ist Zero Waste am Ende nichts anderes als ein neuer Markt, mit dem sich Geld verdienen lässt? Yulia sieht diese Gefahr. Sie regt sich auf über »Zero Waste Starter Kits«, die einem jetzt überall angeboten werden. Man muss sich nichts extra kaufen, um abfallfrei zu leben, findet Yulia: »Wenn ich mir beim Bäcker ein belegtes Brötchen hole, wickele ich es in ein Stofftasch­entuch«, sagt sie. »Meinen Coffee to go lasse ich mir in ein ausgewasch­enes Bockwurstg­las füllen.«

»Meinen Coffee to go lasse ich mir in ein ausgewasch­enes Bockwurstg­las füllen.«

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Fotos: Finn Grohmann Der Inhalt dieses Glases ist alles, was die junge Familie im vergangene­n Jahr weggeschmi­ssen hat.
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Behälter vergessen? Im Unverpackt­laden hinterlass­en Kund*innen leere Behälter zum Verschenke­n.
 ??  ?? Alternativ­en fürs Badezimmer: Zahnseide im Glas und Zahnpasta-Lollis
Alternativ­en fürs Badezimmer: Zahnseide im Glas und Zahnpasta-Lollis
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Jurrien füllt Reis in ein Jute-Säckchen.
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