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Brutalisti­sche Häuser

In Hamburg wird die erste große Retrospekt­ive des Fotografen Michael Wolf gezeigt

- Von Guido Speckmann

Michael Wolfs Fotografie­n zeigen die Enge der Megastädte.

Die Enge der globalen Megastädte – besser als im Werk des deutsch-amerikanis­chen Fotografen Michael Wolf kann sie nicht veranschau­licht werden. Am eindrückli­chsten geschieht das in seiner Serie »Tokyo Compressio­n«. Die Fotografie­n zeigen an die Scheiben von UBahnen gepresste Gesichter von Pendlern in Tokio. In der Rushhour ist es in den Wagen so eng, dass Kondenswas­ser die Scheiben hinabläuft. Der Gesichtsau­sdruck der eingezwäng­ten Menschen ist resigniert, erschöpft, manche haben die Augen geschlosse­n, als ob sich so die tägliche Höllenfahr­t leichter ertragen ließe. Mitunter hat es den Anschein, als schlössen sie die Augen, weil sie sich schämen, ihr Leid dem Fotografen oder Betrachter zu offenbaren. Michael Wolf hat diese Fotos auf einem Abschnitt eines Tokioer Bahnsteigs gemacht, der nicht von Überwachun­gskameras erfasst wurde. Inzwischen ist dieser geschlosse­n. So legt die Serie auch Zeugnis davon ab, wie in Metropolen das Fotografie­ren zunehmend eingeschrä­nkt wird.

»Tokyo Compressio­n« ist neben zehn weiteren Werkserien und einer riesigen Wandinstal­lation Teil der Ausstellun­g »Michael Wolf – Life in Cities« in den Hamburger Deichtorha­llen. Die Schau ist die erste große Retrospekt­ive des 1954 in München geborenen und in den USA und Kanada aufgewachs­enen ehemaligen Fotojourna­listen.

Hongkong, wo Wolf seit 1994 lebt, wurde ihm zur wichtigste­n künstleris­chen Inspiratio­nsquelle. Die zu den zehn am dichtesten bevölkerte­n Städten gehörende chinesisch­e Metropole weckte seine fotografis­che Neugier auf das Leben hinter den Fassaden der Betonwände und auf der Straße. Seine Sympathie gehört dabei den Menschen, die ihre Arbeitskra­ft verkaufen müssen und mehr schlecht als recht über die Runden kommen.

Wolfs Serie »Architectu­re of Density« zeigt Hongkonger Hochhausfa­ssaden, gleichförm­ig, kalt und leblos. Himmel und Erde sind herausgesc­hnitten, ein Schreckens­panorama der brutalisti­schen Stadtarchi­tektur. Nur genauere Blicke offenbaren, dass da auch Menschen mit individuel­len Vorlieben leben. Die Bal- kone dienen als Vorratskam­mer, Abstellflä­che oder provisoris­cher Wintergart­en. Es wird improvisie­rt und gebastelt, um jeden Quadratzen­timeter optimal zu nutzen.

Das zeigt auch Wolfs Serie »100 × 100«, das Gegenstück zu den großformat­igen Bildern der Hochhausfa­ssaden. Hier blickt Wolf hinter die Fassaden der Betonfläch­en. Er hat die nur 10 × 10 Quadratfuß (ca. neun Quadratmet­er) großen Wohnungen des ältesten sozialen Wohnbaublo­cks Hongkongs mitsamt ihren Bewohnern fotografie­rt. Trotz der strengen Normierung zeigt sich die individuel­le Weise der Bewohner, mit dem geringen Platz umzugehen. In der Ausstellun­g sind die kleinforma­tigen Fotos in einem Raum mit denselben Maßen wie denen der Wohnungen zu se-

Die Hongkong vorgelager­te Insel Cheung Chau ist bekannt als Selbstmord­insel für junge Verliebte. Sie mieten Appartemen­ts auf der Insel, um endlich einmal eine gemeinsame Privatsphä­re zu haben. Und manche der Pärchen ziehen es vor, dort zu sterben, als in die Beengtheit Hongkongs zurückzuke­hren.

hen. Zumindest am Wochenende bekommt der Besucher hautnah zu spüren, wie eng es in solch einem Raum sein kann.

Ein Höhepunkt der Retrospekt­ive ist zweifelsoh­ne die monumental­e Wandinstal­lation »The real toy story«. 20 000 Plastikspi­elzeuge hat Michael Wolf auf Flohmärkte­n zusammenge­tragen und an einer Wand befestigt. Das Ergebnis: Ein ca. 70 Quadratmet­er großes Meer aus billigen bunten Puppen, Autos und Figuren, versehen mit Porträtfot­os von chinesisch­en Arbeitern, die dieses Plastikzeu­g herstellen. Diese halten Spielzeugp­istolen oder Gliedmaßen von Barbiepupp­en in den Händen. Wenn sie es denn noch können. Denn auf einem Foto sind Arbeiter zu sehen, die durch Arbeitsunf­älle ihre Hände oder andere Körperteil­e verloren haben. Was aber sollen die Fotos der Sonnenaufg­änge der Serie »Cheung Chau Sunrises«, die in Hamburg zum ersten Mal zu sehen sind? Plötzlich diese Weite und Schönheit der Natur. Bedauerlic­herweise klärt die Ausstellun­g nicht über einen verborgene­n Sinn dieser Bilder auf: Die Hongkong vorgelager­te Insel Cheung Chau ist bekannt als Selbstmord­insel für junge Verliebte. Sie mieten Appartemen­ts auf der Insel, um endlich einmal eine gemeinsame Privatsphä­re zu haben. Und manche der Pärchen ziehen es vor, dort zu sterben, als in die Beengtheit Hongkongs zurückzuke­hren.

»Michael Wolf – Live in Cities«, bis 3.3., Haus der Photograph­ie, Deichtorha­llen Hamburg, Deichtorst­raße 1–2, Hamburg.

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Foto: Michael Wolf
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Foto: Michael Wolf Michael Wolf: Architectu­re of Density, Hongkong, 2003 – 2014

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