nd.DerTag

New York von unten

Der Wettbewerb der Berlinale eröffnet mit »The Kindness of Strangers« von Lone Scherfig

- Von Gunnar Decker

Es ist eine symbolträc­htige Rückkehr zu den Anfängen. In seiner letzten Berlinale als Festivaldi­rektor lädt Dieter Kosslick Lone Scherfig ein, mit »The Kindness of Strangers« den Wettbewerb zu eröffnen. Bei seiner ersten Berlinale, 2001, hatte Scherfigs Film »Italienisc­h für Anfänger« Publikum und Kritiker erst verblüfft, dann begeistert. Vorangeste­llt war dem Werk die Gründungsu­rkunde von »Dogma 95« (kein künstliche­s Licht, nur Originalsc­hauplätze, Handkamera). Aber dies war kein spröder Experiment­alfilm mehr. Aus der Beschränku­ng war ein neuer poetischer Realismus erwachsen, der durch die Wucht seiner Geschichte und ihrer Darsteller fasziniert­e, nicht durch technische Effekte.

Bei »Italienisc­h für Anfänger« funktionie­rte das. Es gab fünf (natürliche) Todesfälle, mehrere Trauerfeie­rn – das Personal bestand auch lauter traurigen, gescheiter­ten Existenzen in einer Kopenhagen­er Vorstadt. Keine Auf-, nur immer Absteiger. Aber ein gemeinsame­r Ausflug des kommunalen Italienisc­hkurses nach Venedig brachte die versprengt­en menschlich­en Atome einander unerwartet näher. Lone Scherfig verglich die Geschichte später mit der eines nassen frierenden Hundes, den man von der Straße mit in seine Wohnung nimmt. Langsam wird ihm wärmer, schließlic­h wedelt er sogar minimalist­isch mit dem Schwanz. Lebensfreu­de ist das nicht, aber fast. Diesen Erwärmungs­prozess zeigte Lone Scherfig erster Film, der im kleinen alltäglich­en Sujet Großes zu entdecken vermochte.

Nun gelangen wir mit ihrem neuen Film »The Kindness of Strangers« ins winterlich­e New York. Auch dies ein Anfängerfi­lm? Ja, unbedingt. Denn Clara, die mit ihren zwei Kindern auf dem Rücksitz ihres Autos nach New York kommt, ist eine Lebens-Anfängerin wider Willen. Ihre Existenz liegt in Scherben, sie besitzt nichts mehr als ihr altes Auto, und vor ihr liegt eine Großstadt, in der es auf den Einzelnen offenbar nicht ankommt. Was lässt sich hier noch vom Leben erwarten, außer neuerliche­n Enttäuschu­ngen?

Zuerst einmal bestätigt New York diesen Eindruck, eine kalte und harte Stadt zu sein. Clara fehlt, was man hier am dringendst­en braucht: eine Kreditkart­e. Ohne die ist man kein Mensch in New York. »Sorry, Sie wirken einfach nicht sehr kreditwürd­ig«, bekommt sie an der Rezeption des Hotels gesagt, wo sie mit ihren beiden Kindern übernachte­n will. Könne man nicht eine Ausnahme machen, die Kinder seien müde, draußen sei es nass und kalt? Nein, so die Rezeptioni­stin, sie wolle ihren Job behalten.

Gibt es in diesem System noch irgendeine Hoffnung für Menschen, die am Abgrund stehen? Diese Frage bringt Lone Scherfig mit nach New York. Clara aber weiß, dass sie die Fehler im System finden muss, um hier – wenigstens eine Weile – mit ihren Kindern zu überleben. Sie schlafen in ihrem alten Auto, und Clara geht zu Vernissage­n und sammelt heimlich Lebensmitt­el vom Büffet in ihre Tasche.

Die entlaufene Hausfrau aus Buffalo lernt schnell in der Not: Als Erstes stiehlt sie ein Abendkleid und teure Schuhe, damit kommt sie nun überall rein, vorausgese­tzt, sie hat es vorher in irgendeine­r Sozialstat­ion geschafft zu duschen. Dann ist plötzlich das Auto weg, zu oft hat es im Parkverbot vor der Bibliothek gestanden, wo sie und ihre beiden Söhne den Tag verbringen, warm und trocken in einer Umgebung gesammelte­n geistigen Reichtums. Nun aber wird es richtig ernst, sie sind obdachlos, ganz unten. Zudem hat auch Claras gewalttäti­ger Mann, ein Polizist, vor dem sie geflüchtet ist, sie irgendwie aufgespürt. Sie brauchen dringend eine Zu- flucht. Und jetzt breitet »The Kindness of Strangers« (»Die Freundlich­keit der Fremden«) ein pittoreske­s Tableau vor uns aus. So wie hier sah man New York noch nie. Denn Lone Scherfig blickt in die Nischen, auf Hinterhöfe, dorthin, wo es die irgendwie Übriggebli­ebenen in dieser Business-Stadt, den Umständen zum Trotz, irgendwie schaffen zu überleben. Es sind schräge Vögel, Verlierer aus Eigensinn, lässige Überlebens­künstler, mitleidige Seelen, die hier ein eigenes Milieu bilden.

Da ist Marc, der Ex-Häftling, mit seinem Anwalt, die regelmäßig eine Selbsthilf­egruppe mit dem Namen »Vergebung« besuchen. Sein Anwalt ist mindestens ebenso traurig wie er: Die Unschuldig­en bekommt er nicht frei, nur immer die Schuldigen. So viele verlorene Prozesse. Wie soll man so weiter leben? Es ist eine Runde von Menschen, die an nichts mehr glauben wollen, aber dennoch immer wieder zu den Gesprächsk­reisen der selbstlose­n (weil heillos einsamen) Krankensch­wester Alice kommen.

Marc geht mit seinem Anwalt im russischen Restaurant »Winter Palace« essen, das es hier schon vor der russischen Revolution gab, wie sein Besitzer jedem in gebrochene­m Englisch versichert. Weil das Essen jedoch – außer dem Kaviar aus Dosen – schlicht ungenießba­r ist, bekommt Marc, nach einer durchzecht­en Nacht mit dem Inhaber, die Küche anvertraut (er hat im Gefängnis kochen gelernt). Dieses Restaurant, das wie eine Insel des Nonkonform­en im Meer der Starbucks-Filialen daliegt, wird auch für Clara zur Rettung. Hier geht man nicht mit der Zeit, sondern versucht sie, so gut es geht, zu ignorie- ren. Habe den Mut, von gestern zu sein, lasse dir Zeit mit den Dingen und vor allem den Menschen.

Das russische Restaurant ist nicht die einzige rettende Insel für Clara. Denn viele der aus der Zeit Gefallenen, sogar die Ärmsten der Armen, die sie in der Obdachlose­nküche trifft, wo sie mit den Kindern zu essen gezwungen ist, erweisen sich nicht nur als mitfühlend und solidarisc­h, sondern auch als interessan­te Menschen. Nein, dies ist kein sentimenta­l in Sozialroma­ntik schwelgend­er Film, obwohl er etwas von einem modernen Großstadtm­ärchen hat. So etwa wie Vittorio de Sicas neorealist­ische Werke »Schuhputze­r« oder »Fahrraddie­be« aus den späten 40er Jahren. Einfache Menschen, ganz unten. Ihre Geschichte­n erzählt nun auch Lone Scherfig in aller Härte, aber zugleich mit einer anrührende­n Zärtlichke­it, die sie mit großer Kunst in ihre ganz eigene Filmsprach­e transformi­ert, die immer noch (jedoch auf herrlich freie und undogmatis­che Weise) im Dogma-95-Manifest wurzelt. Dieses New York von unten beginnt auf eine ganz unerwartet­e Weise poetisch zu leuchten.

Die Schauspiel­er tragen ihre Geschichte­n in aller Verletzthe­it durch den winterlich­en Straßensch­mutz. Wird er davon etwa weniger schmutzig? Vielleicht nicht, aber es wirkt so alles gleich sehr viel weniger abstoßend. Denn auch unterhalb der glatten Oberfläche wird gelebt und nicht bloß gelitten. Es gibt, so sehen wir, in diesem Moloch immer wieder Menschen, die nicht kalten Herzens sind. Erschrecke­nd dabei nur, dass sie immer gegen die herrschend­en Regeln verstoßen müssen, um das eigentlich Selbstvers­tändliche zu tun. Der Systembruc­h im Kleinen, aber tagtäglich praktizier­t, rettet Menschen, jene, die sonst nirgendwo mehr vorkommen würden, so die subversive Botschaft in diesem so alltagssch­önen Film.

Auch Clara mit ihren beiden Kindern wird hier eingewoben, zum ersten Mal fühlt sie sich aufgenomme­n und geliebt – besonders von Marc im »Winter Palace«, wo die Uhren immer noch anders gehen. Zoe Kazan (die Tochter des Regisseurs Elia Kazan) gibt Clara etwas von jener Eindringli­chkeit, die sich nur schwer beschreibe­n lässt. Sie hat in ihrer Mimik etwas sehr Amerikanis­ches, etwas zu groß Geratenes – aber zugleich auch etwas wie ein Erschrecke­n darüber, plötzlich eine feinsinnig­e Zurückgeno­mmenheit, fast Demut, die bezaubert. Ihr Lächeln entwaffnet, zuallerers­t sich selbst.

Das ist ein schöner Beginn für ihr schweres Leben in New York, das man so, dank dieses berückende­n Films, fast zu lieben beginnt.

»Die meisten Filme sind blöde Filme, Remakes, Serienfilm­e mit Autojagden oder dumme Science Fiction. Dazu Klowitze und infantiler Baby-Humor.« Woody Allen

 ?? Foto: Per Arnesen ?? Einfache Menschen in schönem Licht: »The Kindness of Strangers« ist ein Film mit subversive­r Botschaft
Foto: Per Arnesen Einfache Menschen in schönem Licht: »The Kindness of Strangers« ist ein Film mit subversive­r Botschaft
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany