Selbstbestimmt
Zur Berlinale-Retrospektive »Selbstbestimmt«, die Filme von Frauen aus der DDR zeigt, erscheint auch eine Enzyklopädie
Berlinale: Zwei Filme und ein Buch von, mit und über Frauen.
Das passt: Zur landesweiten #MeToo-Debatte, zur stolzen Genderstatistik der BerlinaleDirektion und zur Retrospektive »Selbstbestimmt« (mit Filmen von Frauen aus Ost und West aus den Jahren 1968 bis 1989) packt die DEFAStiftung eine aufregende Enzyklopädie dazu: »Sie. Auf der Suche nach dem weiblichen Blick«. Hinter den nüchternen drei Großbuchstaben des Titels verbirgt sich ein außerordentlich vielfältiges Kapitel ostdeutscher Kultur- und Filmgeschichte, das bislang nahezu unbekannt war. Mehr als sechzig Regisseurinnen haben zwischen 1946 und 1992 bei der DEFA gearbeitet, und sie haben alle, wirklich alle Filmgattungen mit eigenständigen Leistungen bereichert.
Die vorgestellten Porträts von 63 Regisseurinnen bedienen nicht schlechthin die aktuelle Konjunktur des Themas »Frauen in der Gesell- schaft«, sondern schließen eine erhebliche filmhistorische Lücke, die man erst mit diesem Buch tatsächlich bemerkt. Mehr noch: In den Biografien dieser Frauen, meist feuilletonistisch-locker von 21 Autorinnen und Autoren erzählt, verbergen sich außergewöhnliche Lebenswege: Wie sich diese Frauen bei allen Unterschieden in Beruf, Bildungsweg, Charakter und Temperament in ihren Beruf hineinarbeiteten (auch manchmal quälten), wie sie sich mit den zahlreichen Widerständen und Tricks der Männer oder mit Behörden herumschlagen mussten, weshalb manche resignierten und aufgaben, weshalb manche aber auch reüssierten. So liest man auch ein gutes Stück DDR-Alltagsgeschichte mit allen innenpolitischen Auf- und Abschwüngen. Und das ist manchmal aufregender als das reine filmische Werk der Frauen selbst. Es bildet den schmalen, ausdrucksstarken Teil einer modernen Ideengeschichte, so vermessen kann man es sagen. Die in der DDR proklamierte Gleichberechtigung der Frauen war politisch gewollt und definiert, die Frauen nutzten sie meist als Chance zur Selbstbestimmung, was in kunstproduzierenden Betrieben wie der DDR-Monopol-Filmfirma DEFA häufig schwerer zu erreichen war als etwa in Konfektionsbetrieben.
Eine der ersten Regisseurinnen der DEFA war Marion Keller. Durch die Gunst der ersten Nachkriegszeit, durch das Wohlwollen der sowjetischen Besatzungsmacht und mit kräftiger Unterstützung ihres damaligen Ehemanns Kurt Maetzig wurde sie zur Chefin der Wochenschau »Der Augenzeuge«. Diese leitete sie mehrere Jahre und machte sie zu einem munteren Magazin, das mehr als nur Informationen lieferte und sich durch Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, auch Humor und viel Persönlich-Ziviles auszeichnete.
Zur gleichen Zeit drehte Eva Fritzsche drei Kurzspielfilme mit doku- mentarischen Teilen (»Die Brücke von Caputh«, 1949/50) und thematisierte den Aufbau- und Aufbruchscharakter jener frühen Jahre. Den ersten echten Spielfilm schuf Bärbl Bergmann, den Kinderfilm »Ein ungewöhnlicher Tag« (1959). Generationen später drehten Renate Drescher, Hanna Emuth, Sigrid Hinz, Lisette Mahler und etliche weitere Kultur- und Lehrfilme. Mit Gitta Nickel, Barbara Junge, Helke Misselwitz und Sibylle Schönemann kamen Frauen zum Dokumentarfilm. Im Spielfilm arbeiteten unter anderen Ursula Hattop, Iris Gusner, Evelyn Schmidt (»Das Fahrrad«, 1981). Natürlich thematisierten diese Regisseurinnen allemal Frauengeschichten aus dem Alltag der DDR: Liebe, Ehe und Scheidung, Leben mit Kindern, Partnersuche – Quellen für Konflikte zuhauf. Es fällt auf, dass besonders viele Frauen als Regisseurinnen beim Animations- und Trickfilm arbeiteten, unter anderen Marion Rasche, Sieglinde Hamacher, Christel Wiemer. In allen Genres trugen diese Frauen einen wesentlichen ästhetischen Grundzug aller DEFA-Filme mit: die soziale Grundierung der erzählten Geschichten, vor allem bei der genauen, sehr lebendigen Zeichnung der Arbeitswelten, unabhängig von Landschaft, Industriezweig oder individuellen Fertigkeiten.
18 ausgewählte Filme, in technisch bester Qualität auf zwei DVDs beigelegt, flankieren die Enzyklopädie. Die oft gestellte Frage, ob es einen »weiblichen Blick«, einen »weiblichen Filmstil« gibt, beantwortet das Buch nicht. Es eröffnet vielmehr den Blick auf viele verschiedene Handschriften und Frauen. Und das ist eine Menge.
Cornelia Klauß/Ralf Schenk (Hrsg.): »Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme«, Verlag Bertz + Fischer, 416 S., geb., 29 €. Die Buchpremiere findet im Rahmen der Berlinale-Retrospektive statt: 10.2., 18 Uhr, im Filmhaus am Potsdamer Platz (Filmmuseum).