Die letzte Rettung
Der Afghane Khan A. lebt derzeit in einer Berliner Gemeinde. Wird er abgeschoben, droht ihm der Tod
Das Kirchenasyl steht unter Druck durch die Behörden.
Als »Prümer Taliban« abgestempelt und von den Behörden als Gefährder eingestuft, muss Khan A. um sein Leben fürchten. Denn er soll nach Afghanistan abgeschoben werden.
Der Gottesdienst ist zu Ende, als ein kleiner schmaler Mann zu der Pfarrerin tritt, die an der Tür steht und ihre Gemeinde verabschieden will. »Schön, dass Sie hierher gekommen sind«, freut sich die Frau, die vom Alter her seine Mutter sein könnte. Dann flüstert der Mann, Khan A., 23 Jahre alt und Flüchtling aus Afghanistan, etwas und die Pfarrerin flüstert etwas zurück. Khan A. geht. Die Pfarrerin verabschiedet die Besucher des Gottesdienstes.
Leben und Sicherheit von Khan A. liegen in den Händen ihrer evangelischen Gemeinde in Berlin. Denn der Mann, der nach Afghanistan abgeschoben werden sollte, hat hier Kirchenasyl erhalten. Kirchenasyl bedeutet Schutz vor Abschiebung für eine begrenzte Zeit. 24 Kirchenasyle für insgesamt 42 Personen haben Berliner Gemeinden derzeit ausgesprochen. Der Bedarf ist aber um ein Vielfaches höher, sodass stets eine gründliche Prüfung erfolgt, wer den Schutz der Kirche am nötigsten hat. Während des Kirchenasyls muss die Gemeinde für alle Kosten ihres Schützlings aufkommen. Im Krankheitsfall helfen konfessionelle Krankenhäuser.
Behörden und Gerichte sollen den Aufschub nutzen, das Asylbegehren noch einmal zu prüfen. Khan A.s Anwältin hat das zuständige Verwaltungsgericht erneut angerufen. Aber für Khan A. bedeutet es noch mehr: Schutz vor der »negativen Aufmerksamkeit«, die er, so die Berliner Kirchengemeinde, in Rheinland-Pfalz erfuhr, wo er zuvor gewohnt hatte. Sie habe ihm das Leben dort unerträglich gemacht.
Gelogen, um bleiben zu können
Um diesen Schutz zu garantieren, nennt »nd« weder den Namen der Pfarrerin noch den der Kirchengemeinde, in der Khan A. lebt. Die Kirche liegt in einem Wohngebiet und ist weit davon entfernt, ein Berliner Wahrzeichen zu sein. Die Gemeinde ist jung, engagiert und unkonventionell. Eine junge Frau hat gerade im Gottesdienst das Bild erläutert, das sie von Jesus hatte, als sie 15 war. Mithilfe eines Liedtextes: »Man sagt, er war ein Gammler, er zog durch das ganze Land, raue Männer im Gefolge, die er auf der Straße fand. (…) Doch man sagte: Wer so redet, ist gefährlich für den Staat.«
In den Medien in Rheinland-Pfalz heißt Khan A. der »Prümer Taliban«. Prüm ist das Städtchen in der Westeifel, in der Khan A.s Asylheim steht. Taliban heißt er, weil er sich selbst als solcher bezichtigt hatte. In seiner Asylanhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016 hatte er angegeben, als Leibwächter eines Taliban-Kommandeurs bei mindestens 50 Exekutionen sowie weiteren Verbrechen anwesend gewesen zu sein. Anfang 2017 hatte ihn ein Sondereinsatzkommando festgenommen, später wurde er wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Im Strafprozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz zog er seine Aussagen zurück. Er habe sich alles nur ausgedacht, um seine Chancen im Asylverfahren zu erhöhen. Khan A. wurde nach fast einem Jahr Untersuchungshaft freigesprochen.
In der Urteilsbegründung hatte der Vorsitzende Richter gesagt, es gäbe ernsthafte Zweifel an Khan A.s ursprünglicher Darstellung. Denn die Ermittlungen des Bundesnachrichtendienstes hätten ergeben, dass die von ihm genannten angeblichen Talibanführer gar nicht existierten. Ein Landsmann habe ihm eingeredet, seine Chancen im Asylverfahren seien mit so einer Räuberpistole höher als mit der Wahrheit, erläutert seine Anwältin Lyrsini Laaser. Khan A. ist nicht der einzige Afghane, der sich im Asylverfahren solche Geschichten ausdenkt, weil er meint, damit größere Chancen auf ein Bleiberecht in Deutschland zu haben, als mit der Wahrheit. Das Verhalten ist eine Reaktion auf die Erfahrungen von Landsleuten, dass sie in Deutschland trotz Verfolgung durch die Taliban keinen Asylstatus bekommen. Die Einschätzungen der deutschen Behörden zur Sicherheitslage im Land am Hindukusch sind viel optimistischer als die Realität.
Doch trotz Freispruchs durch ein Gericht hat die öffentliche Meinung in Rheinland-Pfalz ihr Urteil über den kleinen, unscheinbaren Mann gesprochen. Der CDU-Politiker Matthi- as Lammert spricht von Asylmissbrauch und sagt: »Das sind genau die Fälle, über die sich die Leute zurecht ärgern.« Der »Triersche Volksfreund« zitiert den CDU-Mann mit der Forderung, Khan A. für die Kosten seiner Untersuchungshaft in Regress zu nehmen. Die Forderung nach Abschiebung von Khan A., dessen Asylantrag inzwischen abgelehnt wurde und der das Klageverfahren nicht konsequent betrieben hatte, ertönt laut. So laut, dass die Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz sie sich zu eigen macht. Das Bundesland schiebt, anders als beispielsweise Bayern, wegen der Sicherheitslage normalerweise nicht nach Afghanistan ab. Nur in »äußerst begrenzten Einzelfällen«, etwa bei Straftätern und islamistischen Gefährdern, macht es eine Ausnahme. Zwölf Abschiebungen gab es zwischen 2016 und 2018.
Warum Khan A. eine solche Ausnahme sein sollte, sagt eine Sprecherin der grünen Integrationsministerin Anne Spiegel: »Der Fall unterscheidet sich in erheblichem Maße von den üblichen Selbstbezichtigungsfällen, in denen Asylbewerberinnen und -bewerber vorgeben, Kontakt mit terroristischen Vereinigungen gehabt zu haben, um ihre Chancen im Asylverfahren zu verbessern.« Er habe seine Aussage konsequent und glaubhaft aufrechterhalten und damit die Behörden massiv getäuscht. Die Abschiebung kam nicht zustande, weil er erst nach Frankreich und dann ins Berliner Kirchenasyl floh.
Gefahr der Folter bei Rückkehr
Die Berliner Kirchengemeinde sagt, sie habe diesen Fall besonders detailliert geprüft. »Die Sorge um Leib und Leben des Asylsuchenden hat unsere Gemeinde dazu bewogen, das Kirchenasyl auszusprechen. Die Bibel mahnt uns, Fremde in Not zu schützen.« Für die Gemeinde sei es nicht nachvollziehbar, dass Khan A. trotz Freispruchs vom Tatvorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung »als vermeintlicher Gefährder abgeschoben werden soll. Ihm droht dadurch im Heimatland Folter oder sogar die Hinrichtung«. Durch das Kirchenasyl komme der junge Mann, der inzwischen deutsch gelernt hat, zudem »mit vielen Menschen in Kontakt, denen Freiheit, Sicherheit und Menschenrechte am Herzen liegen. Dies ist unserer Ansicht nach die beste Voraussetzung für eine gelungene Integration und ein humanes und sicheres Zusammenleben.«
Die Anwältin von Khan A. erklärt, ihr Mandant sei aufgrund des Verhaltens der deutschen Behörden, ihn als Gefährder zu führen und als solchen bei den afghanischen Behörden zu melden, im Falle einer Abschiebung in großer Gefahr. Der Mann, der aus Angst vor Zwangsrekrutierung nach Deutschland geflohen war, könne »bei Ankunft in Afghanistan sofort verhaftet und schwer gefoltert zu werden«.