Mit vollem Einsatz
Frankreichs Präsident Macron geht in die Offensive – ob er sein Land mit Debatten beruhigt, ist offen
Polizisten haben das Rathaus von Evry-Courcouronnes weiträumig abgesperrt. Hier soll an diesem kalten Winterabend die Debatte mit Präsident Emmanuel Macron stattfinden. Dabei steht nur eine Handvoll der Gilets Jaunes, der französischen Gelbwesten, frierend und keinesfalls bedrohlich an der nächsten Straßenkreuzung. Der Saal füllt sich nach und nach mit den geladenen 150 Bürgermeistern und 150 Vertretern von Hilfs- und Bürgervereinen. Philippe Rio, kommunistischer Bürgermeister von Grigny, einer 30 000-Einwohner-Stadt im Département Essonne, sagt auf die Frage nach den Gelbwesten: »Die wollen von dieser Debatte hier nichts wissen und sich schon gar nicht beteiligen, weil sie das Ganze für eine Propagandaschau der Regierung halten.« Verdienst der Gelben Westen sei aber, dass sie mit ihren oft überzogenen Anklagen und Forderungen Macron und die Regierung zum Reagieren gezwungen und so unbewusst eine nützliche Diskussion über die herangereiften Probleme provoziert hätten. »Außerdem deckt sich ihre Kritik an sozialen Missständen mit der von vielen Bürgern und Kommunalpolitikern.«
Warum Emmanuel Macron die Anwesenden erst einmal warten lässt, ist erst später zu erfahren. Er hat schnell noch einen Abstecher zu einem örtlichen Verein gemacht, der Kindern und Jugendlichen ausländischer Herkunft die Integration erleichtern will. Als der Präsident schließlich den Saal betritt, wird er nicht mit Beifall begrüßt. Nur zögernd stehen die Anwesenden auf, die im weiten Kreis um den in der Mitte platzierten Präsidenten sitzen. Es ist förmlich zu spüren, dass nur ein Teil von ihnen zu seinen Anhängern gehört, ein ebenso großer Teil zur rechten wie linken Opposition und darüber hinaus nicht wenige zu denen, die distanziert abwarten, ob er mit seiner Politik Erfolg hat oder scheitert.
Der rechtsoppositionelle Bürgermeister von Evry-Courcouronnes, Stéphane Beaudet, ist Vorsitzender des Vereins der Bürgermeister der Pariser Region und hat den Präsidenten in seine 30 Kilometer südlich von Paris gelegene Stadt eingeladen. Er wolle nicht »lamentieren«, beginnt er seine Begrüßungsrede. Aber in den Städten und Gemeinden seiner Region ist der Anteil an Familien mit geringem Einkommen hoch, die Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich. Den Bürgermeistern seien die Hände gebunden, »weil ihnen der Staat mit dem Rotstift und mit immer neuen Gesetzen und Vorschriften das Leben schwer macht«.
Präsident Macron zuckt nicht mit der Wimper. »Ich bin gekommen, um Ihre Meinung zu hören«, versichert er. »Ich werde bestimmt nicht auf jede Frage eine Antwort haben, aber wir brauchen einen Gedankenaustausch, der nützlich ist.« Er wisse, dass sich in vielen Kommunen der Region, in den Vierteln mit vielen Sozialwohnungen die Probleme häufen. Um zu verhindern, dass sie zu Gettos verkommen, müsse alles getan werden, um zu einer »sozialen Mischung« der Bevölkerung zu kommen und »das Leben für alle lebenswert« zu machen.
Der Präsident stellt sich in jeder der 13 Regionen des Landes den Stadtoberhäuptern. Auch die Bürgermeister aus den Überseedepartements und -territorien sind bereits nach Paris gekommen. Jetzt also die Pariser Region. Die Debatte wird vom Minister für Territorialentwicklung Sebastien Lecornu dirigiert, der vor allem dafür sorgen muss, dass niemand seine Redezeit von zwei Minuten überschreitet. Der Ablauf folgt den vier vorangegangenen Debatten mit Macron: Knapp eineinhalb Stunden lang hört sich der Präsident die Erklärungen an, dann nimmt er reichlich eine halbe Stunde lang Stellung und beantwortet konkrete Fragen.
Das Ganze wiederholt sich drei Mal, sodass sich die Veranstaltung über sechs Stunden zieht. Die angesprochenen Probleme reichen weit über die vier Hauptthemen hinaus, auf die die Regierung die nationale Debatte ursprünglich einschränken wollte. Davon hat Macron längst Abschied genommen. »Es gibt keine Tabus, jedes Thema kann hier angesprochen werden«, versichert er.
Die Bürgermeister lassen sich nicht lange bitten, sie haben viel auf dem Herzen. Das reicht vom Abzug von Behörden, Post und anderen öffentlichen Dienstleistern aus kleinen Kommunen über den Ärztemangel bis zu wachsender Altersarmut. »Die Republik hat Verpflichtungen gegenüber den Vierteln sozial benachteiligter Familien«, sagt ein Bürgermeister. »Wir fordern keine Wohltätigkeit, sondern Gerechtigkeit.«
Ein anderer erinnert daran, dass der ehemalige Bürgermeister von Evry und spätere Premierminister Manuel Valls sogar von einer »territorialen Apartheid« gesprochen hat. Ein Thema, das immer wieder auftaucht, ist die Kürzung der staatlichen Beihilfen für die Kommunen, während gleichzeitig immer neue soziale Aufgaben auf sie abgewälzt werden. »Wir sollen mit immer weniger immer mehr machen«, bringt es ein Bürgermeister auf den Punkt.
Scharf kritisiert wird auch das neue Gesetz über Sozialwohnungen, das deren Bau fördern soll und Normen für den Anteil bei Neubauten festlegt – oder Strafen, wenn diese Normen nicht eingehalten werden. Das Gesetz sei kontraproduktiv, schere alle über einen Kamm und nehme nicht auf die örtlichen Besonderheiten Rücksicht, vor allem den Mangel an freiem Bauland.
Macron bleibt keine Antwort schuldig. Schließlich verteidigt er hier seine bisherige Politik und die Zukunft seiner Reformen. Mit denen wolle er jahrzehntelange Verkrustungen aufbrechen, die zu Stagnation geführt haben, wie er erläutert. Und er will die Wirtschaft sowie das soziale und gesellschaftliche Leben modernisieren, um Frankreich international wieder aufzuwerten und wettbewerbsfähig zu machen, versi- chert er. Macron hat Charme. Und den versteht er einzusetzen. Er weiß auch, dass er argumentieren und überzeugen kann, und davon macht er hier reichlich Gebrauch. Schnell wird es warm – durch die hitzige Diskussion und auch durch die Scheinwerfer. Der Präsident entledigt sich seines Jacketts und steht in Hemdsärmeln redend und gestikulierend in der Mitte des Saales. In der Hand hat er nur ein paar Zettel, auf denen er sich die Fragen notiert hat. Er erinnert sich sogar, wer sie gestellt hat und wo derjenige sitzt, sodass er ihn direkt ansprechen kann. Er kennt die Fakten bis ins Detail und kann aus dem Gedächtnis Zahlen nennen. Das beeindruckt, aber es gibt auch Themen, bei denen er beim besten Willen nicht glänzen kann.
So wird ihm immer wieder vorgeworfen, dass er den ehemaligen Stadtentwicklungsminister JeanLouis Borloo mit einem Bericht über die Lage der sozialen Problemvororte beauftragt hat und als der nach sechsmonatiger Arbeit mit Hunderten Kommunalpolitikern im Mai 2018 seinen Bericht vorlegte und einen 50 Milliarden Euro teuren »MarshallPlan« vorschlug, hat der Präsident den mit einer Handbewegung beiseite gefegt. Zu teuer ...
Macron argumentiert, dass die Probleme mit immer neuen Subventionen allein nicht zu lösen seien. Dass ein ganz neues Herangehen nötig sei. Das habe die Vergangenheit gezeigt. Den Todesstoß für den Borloo-Bericht können ihm die Bürgermeister jedoch nicht verzeihen. »Das war für mich eine kalte Dusche«, sagt einer bitter. »Ich frage mich, ob mich nicht die nächste kalte Dusche in wenigen Monaten erwartet, wenn die Schlussfolgerungen aus der gegenwärtigen Debatte gezogen werden.«
Ein anderes heikles Thema ist die Streichung von zwei Dritteln der vom Staat finanzierten 2500 Jobs für jugendliche Arbeitslose, auf die viele Kommunen und Vereine angewiesen sind. Auch hier kann Macron nicht recht überzeugen, wenn er argumentiert, dass es sich dabei um einen »politischen Taschenspielertrick« handelte, um die Arbeitslosenzahl zu senken, und dass diese auf ein Jahr befristeten Jobs fast nie in ein reguläres Arbeitsverhältnis mündeten.
Doch die Klagen der Vertreter der Vereine bleiben auch nicht ohne Wirkung. Macron lenkt ein; vielleicht sei er zu rigoros vorgegangen und habe die Folgen unterschätzt. Um kleineren Vereinen zu helfen, kündigt er an, dass die Regierung Mittel für ein neues Programm von Hilfsjobs für Projekte bereitstellen wird, die über drei Jahre laufen, steuer- und abgabenfrei sind und mit einer beruflichen Qualifizierung verbunden sind.
Kurz vor Mitternacht endet die Debatte mit stürmischem Beifall der Anwesenden. Viele drängen sich danach um den Präsidenten, um ihm die Hand zu schütteln oder ein Selfie an seiner Seite zu machen. Eine Schwarze redet lebhaft auf ihn ein: »Lassen Sie sich nicht entmutigen, machen Sie unbeirrt weiter. Wir brauchen Sie, lassen Sie uns nicht im Stich!«
Selbst Philippe Rio, der kommunistische Bürgermeister von Grigny kommt nicht umhin, das Auftreten von Macron als »brillant« zu bezeichnen. »Aber entscheidend wird sein, was nach der nationalen Debatte an praktischen Ergebnissen für die Menschen herauskommt.«
Mit einer nationalen Debatte will Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Vertrauenskrise überwinden, die durch die Proteste der Gelben Westen offensichtlich wurde. Bis Mitte März sind mehrere tausend Veranstaltungen geplant, auf denen Kritik und Vorschläge gesammelt werden sollen. Danach soll eine Korrektur der Politik, der Gesetze und der Institutionen vorgenommen werden – heißt es.
Den Bürgermeistern sind sind die Hände gebunden, »weil ihnen der Staat mit dem Rotstift und immer neuen Gesetzen und Vorschriften das Leben schwer macht«. Stéphane Beaudet, Stadtoberhaupt von Evry-Courcouronne