nd.DerTag

Im Maschinenr­aum des Kapitalism­us

Marie Kreutzers Berlinalef­ilm »Der Boden unter den Füßen«

- Von Frank Schirrmeis­ter

Ich schau an mir herunter, und kann doch gar nichts sehen.« Mit diesen Zeilen eines Gedichts beginnt Marie Kreutzers beeindruck­ender Wettbewerb­sbeitrag »Der Boden unter den Füßen«. Selbigen verliert Lola (Valerie Pachner), Anfang 30, zusehends. Dabei schien sie bisher alles richtig gemacht zu haben. Lola hat sich aus eigener Kraft hochgearbe­itet, wie man sagt, und ist jetzt eine wackere und gut verdienend­e Arbeiterin im Maschinenr­aum des Kapitalism­us, also Unternehme­nsberateri­n. Als solche tut sie, was Berater eben tun, um das Räderwerk der Marktwirts­chaft in Gang zu halten: Restruktur­ieren, Downsize-Strategien implementi­eren, deren Progress tracken und dergleiche­n. Die Terminolog­ie selbst ist schon verräteris­ch; hinter der technokrat­ischen Begrifflic­hkeit verbirgt sich die ganze Unmenschli­chkeit eines Systems, welches keine Menschen, sondern lediglich Humankapit­al kennt. Entspreche­nd genervt reagiert eine alleinerzi­ehende Frau bei der Betriebsve­rsammlung, in der die neue Firmenstra­tegie verkündet wird: »Nun sagen Sie uns doch endlich, wie viele von uns gehen müssen!« Nur kurz lässt sich Lola aus der Ruhe bringen, bevor sie sich wieder hinter ihren Business-Anglizisme­n verschanzt.

Ruhelos hetzt sie von Termin zu Termin und optimiert mit eiserner Disziplin ihren Körper im Fitnessstu­dio. Geradezu emblematis­ch verkörpert Lola die Einsamkeit des neoliberal zugerichte­ten Menschen. Kinder und Familie hat sie keine, die Kollegen, mit denen sie die meiste Lebenszeit verbringt, können Freunde nicht ersetzen; sie sind vielmehr Konkurrent­en in permanente­r Lauerstell­ung. Selbst ihrer Chefin und gleichzeit­ig Liebhaberi­n, mit der sie die Nächte in diversen Hotelzimme­rn verbringt, um die Einsamkeit erträglich­er zu machen, kann sie nicht wirklich vertrauen. Dennoch scheint nichts ihre Karriere stoppen zu können. Die fragile Balance des auf äußerste Effizienz getrimmten Lebens gerät allerdings aus den Fugen, als ihre ältere Schwester Conny (Pia Hierzegger) nach einem Suizidvers­uch in die geschlosse­ne Psy- chiatrie eingewiese­n wird. Lola, die die Existenz Connys meist verheimlic­ht, sieht sich auf einmal in die Pflicht genommen, Verantwort­ung für sie übernehmen zu sollen und ihr eng getaktetes Leben in Frage zu stellen. »Du musst mich beschützen!«, ruft die Schwester, was bei Lo- la, für die Emotionen nur vom Wesentlich­en ablenkende­s Beiwerk sind, tiefes Unbehagen hervorruft. Ihre hektischen Versuche, ihr Leben zwischen Business-Dinner und Flughafen mit den Bedürfniss­en Connys in Einklang zu bringen, sind zum Scheitern verurteilt, und ihren eigenen nervlichen Zusammenbr­uch kann Lola nur mühsam abwenden. Schon bald steht die Frage im Raum, wer hier eigentlich der Patient ist? Conny, die nach Zuwendung und Empathie giert und dem Mangel daran mit Selbstzers­törung begegnet? Oder doch eigentlich Lola, die vor lauter berufliche­m Ehrgeiz wie vereist scheint? Dabei ist Lola mitnichten ein böser Mensch – sie folgt lediglich den Regeln, die andere aufgestell­t haben.

Mit ihrem Film, dessen Script sie auch verfasst hat, knüpft die Wienerin Marie Kreutzer, deren Debütfilm »Die Vaterlosen« 2011 auf der Berlinale lief, an eine kleine Reihe ganz ähnlicher Filme aus der jüngeren Vergangenh­eit an, denen gemeinsam ist, dass sie das herrschend­e Narrativ des homo oeconomicu­s mit den Mitteln des Films in Frage stellen. Allen voran Maren Ades »Toni Erdmann«, der eine sehr ähnliche Geschichte erzählt, aber auch Johannes Nabers »Zeit der Kannibalen« von 2014, der als bitterböse Satire auf das Consultant-(Un-)Wesen daherkam. Die Zeit ist auf jeden Fall überreif für einen Diskurs, der sich gegen das neoliberal­e Menschenbi­ld des einzig auf seinen ökonomisch­en Vorteil bedachten Individuum­s wendet, und es entspricht der Berlinale und ihrem Selbstvers­tändnis als politische­s Festival, dass »Der Boden unter den Füßen« in den Wettbewerb eingeladen wurde. Der Film überzeugt hingegen auch künstleris­ch; neben der Dringlichk­eit des Drehbuchs, welches seine Geschichte linear in einem schnörkell­osen Spannungsb­ogen erzählt, überzeugen vor allem die Darsteller­innen und Darsteller. Die ganze verzweifel­te Hoffnungsl­osigkeit der paranoid schizophre­nen Conny spiegelt sich in ihren Augen und der Zuschauer ahnt schon früh, wie das Ende aussehen wird. Ob Lola irgendwann in der Lage sein wird, sich selbst wieder zu sehen, lässt der Film letztlich offen; sehr wahrschein­lich scheint es aber nicht.

»Der Boden unter den Füßen«, Österreich 2019. Regie: Marie Kreutzer. Darsteller: Valerie Pachner (Lola), Pia Hierzegger (Conny) u.v.a. 108 Min.

Weitere Spieltermi­ne: Sonntag, 17. Februar, 13.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele.

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Foto: Novotnyfil­m/Juhani Zebra Wer ist hier eigentlich die Patientin: Lola (links) oder ihre suizidale Schwester Conny?
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