Die Welt erkaltete, der Mensch verblich
Zum 150. Geburtstag der Else Lasker-Schüler: Das Gedichtbuch für Hugo May
Sie hatte einen Koffer entdeckt, einen sehr großen Koffer, und sie wusste gleich, der würde ihr helfen. Für ihre geplante Reise nach Paris könnte er alles fassen, was sie auf ihre neun Taschen verteilt hatte. Am 6. Juni 1933, gleich nach Pfingsten, schrieb sie dem »lieben hochverehrten Herrn Dr. Ittmann« in der fünften Etage des Züricher Warenhauses Julius Brann einen Brief. Sie wolle den Koffer, der wohl 58 Franken kosten würde, auf Abzahlung kaufen, schrieb sie, und 10 Franken anzahlen. Den Rest könne sie vielleicht schon in einem Monat begleichen. Sie wünschte, dass das Haus Brann Vertrauen zu ihr hätte und dass der Herr Dr. Ittmann (»Ich hoffe, Sie kennen mich so weit«) für sie sprechen würde. Und schloss mit lieben Grüßen: »Ihre traurige Else LaskerSchüler«.
Fünf Tage später nahm sie den Koffer in Empfang. Nun hatte sie wenigstens dieses »Schreib-Kofferhaus«, in dem sie ihre wenigen Habseligkeiten unterbringen konnte. Sonst hatte sie nichts. Sie war Hals über Kopf am 19. April 1933, nachdem man sie in Berlin auf offener Straße angegriffen hatte, in die Schweiz geflohen und in einem Züricher Hospiz untergekommen. Geboren am 11. Februar 1869, war sie nun, Tochter eines jüdischen Bankiers in Elberfeld, 64 Jahre alt, eine Malerin und Dichterin aus dem Umfeld der Expressionisten, die stärkste und radikalste Stimme der Avantgarde im kaiserlichen Berlin, für Gottfried Benn die »größte Dichterin, die Deutschland je hatte«. Es war lange her. Damals, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, verkehrten beide in der Berliner Boheme, sie, eben erst geschieden und bettelarm, und er, 17 Jahre jünger, wie viele andere Künstler und Dichter fasziniert von ihren Strophen und ihrer Erscheinung, den orientalischen Gewändern, den Fußglöckchen, dem üppigen, außergewöhnlichen Schmuck. Jetzt, 1933, saß er in der Preußischen Akademie der Künste gewissermaßen auf dem Stuhl, von dem man Heinrich Mann vertrieben hatte, und giftete gegen alle, die vor Hitler geflohen waren. Sie, seine einstige Liebe, die 1932 den renommierten Kleistpreis erhalten hatte, war eine von ihnen, eine verhöhnte Emigrantin, die nichts als die nackte Haut gerettet hatte, in Zürich von der Fremdenpolizei auf Schritt und Tritt argwöhnisch überwacht, vorgeladen und mit Geldstrafen belegt, vor dem Schlimmsten bewahrt von hilfreichen Eidgenossen.
Zwei dieser Gönner, Kurt Ittmann und Hugo May, standen an der Spitze des Kaufhauses Brann. Sie übernahmen, als die Israelitische Cultusgemeinde 1934 ihre Zahlungen für die Dichterin einstellte, die Miete fürs karge Zimmer im Hospiz und sorgten auch für die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, indem sie für sie bürgten und mit regelmäßigen Geldzahlungen zu ihrem Lebensunterhalt beitrugen. Else Lasker-Schüler versprach in »freudigster Erleichterung«, beiden monatlich je ein Bild zu malen, was die Behörde jedoch, als sie davon erfuhr, als Verstoß gegen das Arbeitsverbot untersagte. Anfang 1935 hatte sie die rettende Idee: Sie würde ihnen Gedichte und Hugo May sogar ein ganzes Gedichtbuch schenken als Dank für uneigennützige Hilfe, alle Texte mit der Hand aufs Büttenpapier eines schönen, in Halbleder gebundenen und mit roten Vorsatzblättern geschmückten Buches geschrieben. Eine kleine Auswahl aus ihrem Werk sollte es sein, ein Querschnitt aus allen Schaffensperioden. An den Beginn des Buches stellte sie ein Gedicht (»An Gott«) von 1908, aber dann folgten schon Arbeiten der letzten Jahre, die zuerst in Klaus Manns Amsterdamer Exilzeitschrift »Die Sammlung« erschienen waren, darunter die Verse des Gedichts »Die Verscheuchte« mit den Zeilen: »Die Welt erkaltete, der Mensch verblich« und »Wo soll ich hin, wenn kalt der Nordsturm brüllt?«
Von diesem Buch hat man bis zum Herbst 2013 nichts gewusst. Erst da kam es, gemeinsam mit unbekannten Briefen, Postkarten und Zeichnungen der Else Lasker-Schüler aus dem Nachlass von Hugo May, zum Vorschein, um auf einer spektakulären Züricher Auktion versteigert zu werden. Aus dem Konvolut, das die Zentralbibliothek der Stadt und das Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt/Main erwarben, ist nun die in Zürich aufbewahrte Sammelhandschrift vom Wallstein-Verlag in einer exquisiten Edition zwischen Buchdeckel gebracht worden. Band 1 enthält das Faksimile mit den handgeschriebenen Gedichten, Band 2 die Transkription, Lasker-Schülers Briefwechsel mit den beiden Brann-Direktoren, dazu Anmerkungen und einen Aufsatz des Mitherausgebers Andreas Kilcher.
Nie war Else Lasker-Schüler auf Rosen gebettet. Im Gegenteil: Sie war und sie blieb arm, wohnte in billigen Pensionen, froh über jede Tasse Kaffee, die ihr jemand spendierte, und schlief auch schon mal auf Parkbänken oder unter Brücken. Die Not blieb ihr im Exil treu. »Glauben Sie doch nicht«, schrieb sie im August 1936 aus Ascona an Hugo May, »daß die Vogelgehirne hier auch nur eine Ahnung von meinem Leid und Schmerz haben.« Sie fror, sehnte sich nach Deutschland und lebte, wie sie be- kannte, so dahin, sie sei nicht verbittert, aber doch bitterer geworden: »Ich kann Ihnen nur danken, daß ich nicht verendete.« Es war ihr peinlich, von Hilfsgeldern abhängig zu sein, die ihr gerade so das Überleben sicherten, weil sie an Verzicht gewöhnt war und auch noch Verwandten in Berlin mit kleinen Beträgen unter die Arme griff. Sie schrieb weiter, war erleichtert, wenn sie irgendwo lesen und sprechen durfte, suchte verzweifelt nach Möglichkeiten, ihre Gedichte zu veröffentlichen, publizierte nach zähen Bemühungen im April 1937 ihren Band »Hebräerland« und verlor trotzdem immer mehr den Glauben an Menschen, »die sich für Gedichte oder Bilder interessieren«.
Zweimal, 1934 und 1937, war Else Lasker-Schüler schon in Palästina gewesen, 1939 fuhr sie noch einmal. Es wurde eine Reise ohne Wiederkehr. Die Schweizer Behörden hatten sich entschlossen, die »Petentin« in ihrem Land nicht mehr zu dulden. Seitdem lebte sie in Jerusalem, der Stadt ihres Traums, die sie in ihren Gedichten immer gefeiert hatte. Aber dieses Jerusalem ihrer Liebe gab es nicht mehr. Sie fand nur Elend und Einsamkeit. Sie gründete den Kraal, eine kleine Vortragvereinigung, die noch einmal ihre Kräfte weckte, und veröffentlichte 1943 ihren letzten Lyrikband, »Mein blaues Klavier«. Das Titelgedicht beginnt mit den Versen: »Ich habe zu Hause ein blaues Klavier / Und kenne doch keine Note. // Es steht im Dunkel der Kellertür, / Seitdem die Welt verrohte.«
Am 22. Januar 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, ist Else Lasker-Schüler in Jerusalem gestorben. Sie wurde auf dem Ölberg begraben.
Sie war und sie blieb arm, wohnte in billigen Pensionen, froh über jede Tasse Kaffee, die ihr jemand spendierte, und schlief auch schon mal auf Parkbänken oder unter Brücken.
Else Lasker-Schüler: Gedichtbuch für Hugo May, hg. von Andreas Kilcher und Karl Jürgen Skrodzki. Wallstein Verlag, 2 Bde., insgesamt 392 S., 191 Abb., geb., 39 €.