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Jedes zweite Kind fürchtet Armut

Experten fordern mehr Unterstütz­ung und Teilhabege­ld für Kinder

- Von Stefan Otto

Gütersloh. Viele Kinder fühlen sich in ihrer Schule nicht sicher, machen sich finanziell­e Sorgen – und nicht alle haben jemanden, der sich um sie kümmert. Das geht aus einer Befragung von rund 3450 Kindern und Jugendlich­en zwischen 8 und 14 Jahren hervor, die die Bertelsman­n-Stiftung und eine Expertin der Frankfurte­r Universitä­t im Schuljahr 2017/18 durchgefüh­rt hatten.

Geradezu alarmieren­d sei, dass ein Drittel der Haupt-, Gesamt- und Sekundarsc­hüler sich nicht ausreichen­d sicher an der eigenen Schule oder auf dem Schulweg fühle, sagte Stiftungse­xpertin Anette Stein am Dienstag. Ebenso müsse es aufrütteln, wenn sich fast 52 Prozent der Befragten »immer«, »oft« oder »manchmal« Sorgen um die finanziell­e Lage ihrer Familie machten.

Die Stiftung in Gütersloh forderte ein Teilhabege­ld für Kinder, in dem alle finanziell­en Leistungen zu bündeln seien. Es solle nach Elterneink­ommen gestaffelt werden und gezielt gegen Kinderarmu­t wirken.

Studien über die Befindlich­keiten von Eltern gibt es viele. Jetzt hat auch eine Befragung von Kindern stattgefun­den, die überrasche­nde Antworten liefert – und dringenden Handlungsb­edarf nahelegt.

Eine Kleinfamil­ie ist recht überschaub­ar, auf den ersten Blick zumindest. Doch die Interessen­lagen können denkbar unterschie­dlich sein und das Zusammenle­ben arg strapazier­en. Die Rollen der Eltern, so legen es verschiede­ne Studien der vergangene­n Jahre nahe, gleichen sich in den Familien zusehends an: Väter drängen auf mehr Teilhabe am Familienle­ben; viele möchten ihre Arbeitszei­t reduzieren, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Die Mütter drängen häufig auf eine frühere Rückkehr in den Beruf.

Und die Kinder? Ihre Sicht auf die Familie spielt bislang eigentlich keine Rolle. Zwar wird über das Kindeswohl berichtet oder über Kinderarmu­t. Aber diese meint vor allem die Armut von Erziehungs­berechtigt­en. Kinder gelten als unmündig, über sie wird entschiede­n, in den meisten Fällen ungefragt.

Um so bemerkensw­erter ist die am Dienstag veröffentl­ichte Untersuchu­ng der Bertelsman­n-Stiftung mit dem Titel: »Frag sie doch selbst!«. Die Sozialwiss­enschaftle­rin Sabine Andresen von der Goethe-Universitä­t in Frankfurt am Main hat dafür im vergangene­n Schuljahr 3450 Mädchen und Jungen im Alter von acht bis 14 Jahren nach ihren Befindlich­keiten befragt. »Kinder und Jugendlich­e sind Experten. Wissenscha­ft und Politik sollten sie zu ihren Rechten, Interessen und Bedarfen systematis­ch und regelmäßig anhören«, forderte Andresen.

Das Ergebnis der Befragung spiegelt viele Facetten aus dem Leben der Kinder wider. Es macht klar, dass gutes Aufwachsen mehr bedeutet als eine finanziell­e Absicherun­g der Familie. So bemängeln etwa fünf Prozent der Achtjährig­en, dass es zu Hause oft niemanden gibt, der sich um sie kümmert. Bei den älteren Kin-

dern beklagen gar zehn Prozent fehlende Zeit der Eltern.

Zwar wird vielerorts der Wunsch der Eltern nach einer Balance von Arbeit und Familie geäußert. Aber oft bleibt eine Doppelbela­stung von Beruf und Familie bestehen, die das Wohlbefind­en der Kinder beeinträch­tigt. Das zumindest legen die Aussagen der Befragten nahe.

Zugleich haben viele Kinder Angst vor Armut. Mehr als die Hälfte der Interviewt­en gab an, sich um die finanziell­e Situation ihrer Familie Sorgen zu machen. Doch scheint das häufig eine diffuse Furcht zu sein, denn die meisten Kinder sind laut der Befragung mit der materielle­n Ausstattun­g ihrer Familien zufrieden und verspüren keinen Mangel.

Katja Kipping findet das Ergebnis der Studie dennoch beachtensw­ert. Die Vorsitzend­e der Linksparte­i mutmaßt, dass diese gefühlte Unsicherhe­it häufig aus prekärer Arbeit wie befristete­n sowie schlecht bezahlten Jobs der Eltern resultiert. »Die Angst vor Erwerbslos­igkeit und steigenden Mieten spüren auch Kinder, die nicht unmittelba­r von Armut bedroht sind.« Eine solche Unsicherhe­it wirke entmutigen­d, schlussfol­gert Kipping.

Die Schulen als zentrale Bildungsei­nrichtunge­n können bei diesen Ängsten offenbar nicht entscheide­nd gegensteue­rn. Im Gegenteil: Jedes dritte Kind an einer Haupt-, Gesamtoder Sekundarsc­hule fühlt sich nicht sicher. Mobbing und Gewalt sind vor allem an diesen Schulen ein großes Thema – weitaus häufiger als an Gymnasien oder Grundschul­en, wo sich nur jedes fünfte Kind bedroht fühlt. Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsman­n-Stiftung, schlägt angesichts dieser Zahlen Alarm: »Kinder müssen sich an ihrer Schule sicher fühlen können. Das ist eine Grundvorau­ssetzung für Lernen und Chancenger­echtigkeit.«

Fatalerwei­se schwindet bei den Schülern mit dem Heranwachs­en auch das Vertrauen in die Lehrer. Würden sich laut der Befragung noch vier von fünf Grundschül­ern den Pädagogen bei Problemen anvertraue­n, so nimmt der Anteil bei den 14Jährigen auf knapp die Hälfte ab. Hier sehen die Autoren der Studie dringenden Handlungsb­edarf.

»Die Angst vor Erwerbslos­igkeit und steigenden Mieten spüren auch Kinder, die nicht unmittelba­r von Armut bedroht sind.« Katja Kipping, Vorsitzend­e der Linksparte­i

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