Hollywood? Prenzlauer Berg
Zum Tod des Volksbühnen-Schauspielers Joachim Tomaschewsky
Frank Castorf inszenierte vor Jahren an der Volksbühne »Gier nach Gold« von Frank Norris. Die Schauspieler waren fast nur auf Video-Leinwand zu sehen – so kam es gleichsam zu einer der schönsten Liebesszenen des deutschen Films: Susanne Düllmann und Joachim Tomaschewsky. Sie damals weit über siebzig, er weit über achtzig: Es geht einzig nur um das Angebot einer Tasse Tee. Aber wie da an einem Gran übermäßiger Höflichkeit, die alles im Stillstand hält, eine mögliche späte Liebe zu scheitern droht oder sie just dadurch geschürt wird – wer weiß! Wie da zwei müde, vom Leben arg benutzte Wesen sich noch einmal in wacheste Schwebe, ja Unschuld bringen! Wie sich da zwei Menschen als unmögliches Paar begreifen, demnach als das einzig richtige, und beide doch Meilen und Welten im Moment (noch) nicht überwinden können! Wie da aus Theater eine Zuflucht wird, von der man wünschte, sie sei wirklich! Das war zu Tränen rührend. Diese zwei Menschen tun nichts, um einander passend zu machen. Just das zu leben, was ist; nicht aber das, was nur zu scheinen hat, als ob es wäre – vielleicht die gütigste aller Botschaften.
Joachim Tomaschewsky. In über hundert DEFA- und Fernsehfilmen hat er gespielt. »Archiv des Todes«, »Das grüne Ungeheuer«, Spionage- Thriller von Rudi Kurz erhoben ihn zum Prototyp des schillernd Zwiegesichtigen, des gewieften Dunkelmanns, der berechnenden Maskerade in Diensten von Politik und Geschäft. Er war schon über neunzig, da bekam er ein Hollywood-Angebot; natürlich sollte er einen deutschen Nazi spielen, er lehnte ab: »Eine Castorf-Inszenierung ist zwar anstrengender als ein Flug über den großen
Dieser Schauspieler – das war gesammelte Herzkraft und das Vertrauen darauf, dass die Geheimnisse einer Figur auch ohne grellen Aufputz ihre Kraft entfalten.
Teich, aber diese Anstrengung findet in der Nähe meiner Wohnung statt«.
Der Chemnitzer vom Jahrgang 1919. Wie viele deutsche Daten in einem einzigen Leben! 1933, 1939, 1945, 1949, 1989! Er kam über die Theater Guben, Halle und Leipzig 1962 an die Berliner Volksbühne. Spielte bei Besson, bei Müller, bei Marquardt, bei Karge und Langhoff. War am Rosa-Luxemburg-Platz lange der Doyen, ein Unverwüstlicher, und bis vor Kurzem saß er noch immer bei jeder Castorf-Premiere im Publikum. Ja, auch auf der Bühne über zwanzig Jahre lang ein Castorf-Spieler, der mit der souveränen Gelassenheit des Barden aus totaler Altersfreiheit heraus agierte. In vielen berühmt gewordenen Inszenierungen des Intendanten (»Des Teufels General«, »Golden fließt der Stahl«, »Dämonen«, »Erniedrigte und Beleidigte«, »Der Idiot«).
Dieser Schauspieler – das war gesammelte Herzkraft und das Vertrauen darauf, dass die Geheimnisse einer Figur auch ohne grellen Aufputz ihre Kraft entfalten. Wenn man viele Rollen auf einen Nenner (sträflich genug!) zu bringen versuchte, so hieße der vielleicht: Viel Kunstverstand wird gebraucht für einfache, menschliche Auskünfte. Seine Kunst bei Castorf war Teilnahme eines Erfahrenen an dieser besonderen Volksbühnen-Philosophie: ein unheimliches, ein bösartig kindliches und absichtsvoll ungeschicktes Umherwandern in der eigenen Ratlosigkeit. Geistvolles Aufleuchten und trübes Dahindämmern, quälendes Aufheulen und verwirrendes Auflachen, sarkastischer Spieltrieb und galoppierende Beredsamkeit, arrogante Unfertigkeit und traumwandlerisch sichere Gestaltung.
Über siebzig Jahre Bühne! Ins Spiel zu springen und zu meinen, es sei ein Sprung über alle Grenzen der Welt – das ist die Anmaßung des jugendlichen Beginns. Aber zu wissen, dass man sich trotz höchster Podeste und tiefster Texte wahrlich immer nur in einem Spiel befindet, in dem alle Welt doch nur eine simulierte bleibt – das ist die Bescheidenheit, die mit den Jahren erarbeitet werden muss. Dieser Künstler hat sie vorgelebt, diese Bescheidenheit – die ja das ganze Gegenteil von Unbemerkbarkeit ist, die aber den Beruf vor missionarischer Überschätzung und Belastung schützt.
Nun ist Joachim »Tommy« Tomaschewsky, der sich erst mit siebzig das starke Rauchen abgewöhnte, im Alter von 99 Jahren gestorben.