Und dann kamen die Schwestern
Eckhard John berichtet über die unerhörte Geschichte eines Revolutionsliedes: »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«
Voller Inbrunst trällern die Sozialdemokraten noch heute auf ihren Parteitagen oder anderen Großfeten: »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit,/ Brüder zum Lichte empor!/ Hell aus dem dunklen Vergangnen/ leuchtet die Zukunft hervor.« Und dies ungeachtet einer ziemlich düsteren sozialdemokratischen Gegenwart. Oder gerade deshalb?
In den 1980er Jahren habe die Ökobewegung das Lied usurpiert, berichtet Eckhard John. (Den Grünen gefiel offenbar die darin gefeierte Sonne.) Der Musikwissenschaftler merkt zudem an, dass sich die SPD in jener Zeit, nach dem Regierungsverlust 1982, vom traditionsreichen Song verabschiedete und zum 125. Jubiläum der Partei mit großen Pomp eine neue Hymne einführte – zum einen, weil kaum ein Genosse mehr textsicher war, zum anderen, um sich nunmehr als führende Oppositionsmacht zu profilieren. Die Wahl der Parteispitze fiel auf »Das weiche Wasser bricht den Stein«, von der Friedensbewegung übernommen, bekannt geworden durch die holländische Polit-Pop-Band bots. Es war ein offenbar allzu weichgespülter Singsang, nicht tauglich, um Kampfesmut und Siegesgewissheit auszustrahlen – man kehrte schließlich zum alten Lied zurück, obwohl es auch zum kommunistischen Erbe gehörte (und gehört) und auf SED-Parteitagen ebenfalls aus – zunehmend heisereren, brüchigen – Kehlen erklang.
»Die Geschichte von ›Brüder, zur Sonne, zur Freiheit‹ kann als ein Spiegelbild deutscher Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert gelesen werden«, schreibt John. Gleichzeitig verweise die internationale Verbreitung und Vernetzung darauf, »dass solche Liedgeschichten nicht im Sinne einer nationalen Nabelschau zu verstehen sind«. Die deutsche Linke verdankt das Lied dem Musiker und Dirigenten Hermann Scherchen, der den Ersten Weltkrieg als Zivilinternierter in Russland erlebt hatte und, nach Deutschland zurückgekehrt, zwei revolutionäre Hits von dort mitbrachte: den Trauermarsch »Unsterbliche Opfer« und »Vorwärts Genossen, im Gleichschritt« (Smelo, towarischtschi, w nogu ). Letzteres stammte aus der Zeit vor der Spaltung der russischen Sozialdemokratie in Menschewiki und Bolschewiki, verfasst vom Chemiker und Führungsmitglied der »Arbeiter-Union« Leonid P. Radin in zaristischer Haft. Lenin lernte es im sibirischen Verbannungsort Schuschenskoje kennen; es gehörte neben »Unsterbliche Opfer« zu seinen Lieblingsliedern. Scherer dichtete es für deutsche Münder und Ohren etwas um und intonierte es erstmals 1920 mit Arbeiterchören, damals noch unter dem Titel »Rotgardistenmarsch«.
Der zunächst einstrophige Gesang machte Furore, wurde sukzessive um weitere Liedzeilen ergänzt und erfuhr Übersetzungen in zahlreichen Sprachen. John stellt in seinem höchst aufschlussreichen, ja spannenden Ex- kurs ausführlich, mit Komposition und Text, verschiedene Versionen des Liedes vor (dank dem Verlag für die Großzügigkeit auch hinsichtlich Faksimilies). Der Autor erinnert daran, dass das Lied die Interbrigadisten in Spanien in die Schlacht begleitete, die Résistancekämpfer in Frankreich und Titos Partisanen im deutsch okkupierten Jugoslawien beflügelte sowie den in NS-Zuchthäusern und KZ schmachtenden Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und Kommunisten Kraft zur Selbstbehauptung gab.
Doch auch »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« blieb nicht von Missbrauch verschont. Gleich anderen traditionellen Arbeiterliedern wurde es von den Nazis für ihre Demagogie eingespannt. Schon vor 1933 entstanden die beiden bekanntesten NS-Varianten: »Brüder in Zechen und Gruben« sowie »Brüder, formiert die Kolonnen«. Zwar sogar in NS-Liederbücher aufgenommen, verschwanden die trügerisch »Volksgemeinschaft« vorgaukelnden Schnulzen nach der Etablierung der Diktatur und vor allem im mörderischen Eroberbungsund Vernichtungskrieg.
Die Buchenwald-Häftlinge stimmten es am Tag ihrer Selbstbefreiung, am 11. April 1945, an. Karl Amedeus Hartmann griff es in seiner Klaviersonate für die Opfer des KZ Dachau auf. Das Motto der Vereinigung von KPD und SPD im Jahr darauf war der dritten Strophe entnommen: »Brüder, in eins nun die Hände«. Dazu gehört die historische Aufnahme von den sich die Hand reichenden Sozialdemokraten und Kommunisten Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck.
In den 1980er Jahren entdeckte die Frauenbewegung das Lied, zuerst in Österreich. »Schwestern, wir werden es schaffen«, dichtete Ulrike Pösttinger: »Die Zukunft gehört auch uns Frauen«. Die Gegenwart aber auch!