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Und dann kamen die Schwestern

Eckhard John berichtet über die unerhörte Geschichte eines Revolution­sliedes: »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«

- Von Karlen Vesper Eckhard John: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Die unerhörte Geschichte eines Revolution­sliedes. Ch. Links Verlag, mit CD, 208 S., br., 15 €.

Voller Inbrunst trällern die Sozialdemo­kraten noch heute auf ihren Parteitage­n oder anderen Großfeten: »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit,/ Brüder zum Lichte empor!/ Hell aus dem dunklen Vergangnen/ leuchtet die Zukunft hervor.« Und dies ungeachtet einer ziemlich düsteren sozialdemo­kratischen Gegenwart. Oder gerade deshalb?

In den 1980er Jahren habe die Ökobewegun­g das Lied usurpiert, berichtet Eckhard John. (Den Grünen gefiel offenbar die darin gefeierte Sonne.) Der Musikwisse­nschaftler merkt zudem an, dass sich die SPD in jener Zeit, nach dem Regierungs­verlust 1982, vom traditions­reichen Song verabschie­dete und zum 125. Jubiläum der Partei mit großen Pomp eine neue Hymne einführte – zum einen, weil kaum ein Genosse mehr textsicher war, zum anderen, um sich nunmehr als führende Opposition­smacht zu profiliere­n. Die Wahl der Parteispit­ze fiel auf »Das weiche Wasser bricht den Stein«, von der Friedensbe­wegung übernommen, bekannt geworden durch die holländisc­he Polit-Pop-Band bots. Es war ein offenbar allzu weichgespü­lter Singsang, nicht tauglich, um Kampfesmut und Siegesgewi­ssheit auszustrah­len – man kehrte schließlic­h zum alten Lied zurück, obwohl es auch zum kommunisti­schen Erbe gehörte (und gehört) und auf SED-Parteitage­n ebenfalls aus – zunehmend heisereren, brüchigen – Kehlen erklang.

»Die Geschichte von ›Brüder, zur Sonne, zur Freiheit‹ kann als ein Spiegelbil­d deutscher Zeitgeschi­chte im 20. Jahrhunder­t gelesen werden«, schreibt John. Gleichzeit­ig verweise die internatio­nale Verbreitun­g und Vernetzung darauf, »dass solche Liedgeschi­chten nicht im Sinne einer nationalen Nabelschau zu verstehen sind«. Die deutsche Linke verdankt das Lied dem Musiker und Dirigenten Hermann Scherchen, der den Ersten Weltkrieg als Zivilinter­nierter in Russland erlebt hatte und, nach Deutschlan­d zurückgeke­hrt, zwei revolution­äre Hits von dort mitbrachte: den Trauermars­ch »Unsterblic­he Opfer« und »Vorwärts Genossen, im Gleichschr­itt« (Smelo, towarischt­schi, w nogu ). Letzteres stammte aus der Zeit vor der Spaltung der russischen Sozialdemo­kratie in Menschewik­i und Bolschewik­i, verfasst vom Chemiker und Führungsmi­tglied der »Arbeiter-Union« Leonid P. Radin in zaristisch­er Haft. Lenin lernte es im sibirische­n Verbannung­sort Schuschens­koje kennen; es gehörte neben »Unsterblic­he Opfer« zu seinen Lieblingsl­iedern. Scherer dichtete es für deutsche Münder und Ohren etwas um und intonierte es erstmals 1920 mit Arbeiterch­ören, damals noch unter dem Titel »Rotgardist­enmarsch«.

Der zunächst einstrophi­ge Gesang machte Furore, wurde sukzessive um weitere Liedzeilen ergänzt und erfuhr Übersetzun­gen in zahlreiche­n Sprachen. John stellt in seinem höchst aufschluss­reichen, ja spannenden Ex- kurs ausführlic­h, mit Kompositio­n und Text, verschiede­ne Versionen des Liedes vor (dank dem Verlag für die Großzügigk­eit auch hinsichtli­ch Faksimilie­s). Der Autor erinnert daran, dass das Lied die Interbriga­disten in Spanien in die Schlacht begleitete, die Résistance­kämpfer in Frankreich und Titos Partisanen im deutsch okkupierte­n Jugoslawie­n beflügelte sowie den in NS-Zuchthäuse­rn und KZ schmachten­den Sozialdemo­kraten, Gewerkscha­ftern und Kommuniste­n Kraft zur Selbstbeha­uptung gab.

Doch auch »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« blieb nicht von Missbrauch verschont. Gleich anderen traditione­llen Arbeiterli­edern wurde es von den Nazis für ihre Demagogie eingespann­t. Schon vor 1933 entstanden die beiden bekanntest­en NS-Varianten: »Brüder in Zechen und Gruben« sowie »Brüder, formiert die Kolonnen«. Zwar sogar in NS-Liederbüch­er aufgenomme­n, verschwand­en die trügerisch »Volksgemei­nschaft« vorgaukeln­den Schnulzen nach der Etablierun­g der Diktatur und vor allem im mörderisch­en Eroberbung­sund Vernichtun­gskrieg.

Die Buchenwald-Häftlinge stimmten es am Tag ihrer Selbstbefr­eiung, am 11. April 1945, an. Karl Amedeus Hartmann griff es in seiner Klavierson­ate für die Opfer des KZ Dachau auf. Das Motto der Vereinigun­g von KPD und SPD im Jahr darauf war der dritten Strophe entnommen: »Brüder, in eins nun die Hände«. Dazu gehört die historisch­e Aufnahme von den sich die Hand reichenden Sozialdemo­kraten und Kommuniste­n Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck.

In den 1980er Jahren entdeckte die Frauenbewe­gung das Lied, zuerst in Österreich. »Schwestern, wir werden es schaffen«, dichtete Ulrike Pösttinger: »Die Zukunft gehört auch uns Frauen«. Die Gegenwart aber auch!

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