Abschiebung ins Elend erlaubt
EU-Richterspruch: Große Armut ist kein Hindernis bei Rückführung von Geflüchteten
Luxemburg. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am Dienstag Urteile gefällt, die für die Asylpraxis in der EU große Auswirkungen haben können. In dem einen Richterspruch ging es darum, ob ein Mitgliedstaat Geflüchtete gemäß der Dublin-III-Verordnung in ein anderes EU-Land abschieben darf, auch wenn es dort Mängel in den Sozialsystemen gibt. In Deutschland gab es mehrere Fälle, in denen Gerichte dies untersagt hatten.
In einer weiteren Verhandlung entschied der Gerichtshof über die Behandlung von Asylsuchenden, die an der Landesgrenze aufgegriffen werden. Bundesinnenminister Horst See- hofer (CSU) hatte während des Asylstreits mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im vergangenen Sommer entgegen vielen kritischen Stimmen vehement darauf gedrängt, Geflüchtete direkt an der Grenze festzusetzen. Dies ist nach dem Urteil der Luxemburger Richter allerdings nicht möglich. Eine Binnengrenze, an der Schengen-Kontrollen eingeführt worden sind, könne einer EU-Außengrenze mit Blick auf die Regeln zur Abschiebung nicht gleichgestellt werden, hieß es in dem Richterspruch. Bei dem verhandelten Fall ging es um einen Marokkaner, der in Frankreich nahe der spanischen Grenze aufgegriffen und in Abschie- behaft genommen worden war. Die Entscheidung wurde von nationalen Gerichten angefochten, woraufhin der französische Kassationshof den EuGH anrief.
Bezüglich der Abschiebungen gemäß der Dublin-Verordnung billigt der Gerichtshof Überstellungen auch dann, wenn den Asylbewerbern im EU-Zielland große Armut droht. Verboten sei eine Abschiebung erst dann, wenn die Geflüchteten in dem anderen Staat so schlecht behandelt werden, dass dies einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichkomme, so die Richter. nd
Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Urteilen Fragen deutscher Gerichte zur Auslegung der EU-Asylregeln in Sachen Abschiebungen geklärt.
In Ungarn lässt man Flüchtlinge in den geschlossenen sogenannten Transitzentren hungern, damit sie auf eine Berufung gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge verzichten – so lautet der Vorwurf des ungarischen HelsinkiKomitees. Schon mehrfach habe die Menschenrechtsorganisation die Versorgung von Flüchtlingen mit Essen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erkämpfen müssen. Erst nach einer Eilverfügung des Gerichts hätten etwa ganz aktuell eine Afghanin und ihr erwachsener Sohn – die minderjährigen Kinder sollen normal versorgt worden sein – nach zweieinhalb Tagen wieder eigene Nahrung erhalten, teilte das Komitee in der Nacht zum Dienstag mit. Der Umgang Ungarns mit Flüchtlingen ist so offensichtlich menschenrechtsverachtend und regelverletzend, dass die EU-Kommission das Land vergangenes Jahr deswegen verklagte. Nach Ungarn schiebt Deutschland in der Regel nicht ab, ebenso nicht nach Griechenland und Bulgarien.
Wo aber liegt quasi die Elendsgrenze? Wie schlimm muss es Asylbewerbern, für die Deutschland nach den Dublin-Regeln nicht zuständig ist, nach einer Abschiebung ins EUEinreiseland ergehen, damit sie in der Bundesrepublik bleiben und hier Asyl beantragen dürfen? Die Antwort, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag auf diese Frage deutscher Gerichte in mehreren Fällen gab, lautet kurz zusammengefasst: Schlimm ist nicht genug, es muss schon sehr sehr schlimm sein.
In den konkreten Fällen, die dem EuGH zur Beurteilung vorgelegt worden waren, ging es um Abschiebungen nach Italien, Polen und Bulgarien, wo die betreffenden Asylbeweber entweder zuerst ihren Asylantrag gestellt oder bereits einen subsidiären Schutzstatus erhalten hatten.
Das oberste Gericht der Europäischen Union verweist mit seinen Urteilen zunächst prinzipiell auf das Vertrauensprinzip zwischen den Mitgliedsstaaten. Man müsse also erst einmal davon ausgehen, dass die Schutzsuchenden in der EU entsprechend etwa der Genfer Konvention oder der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten behandelt werden. Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass in einem Mitgliedstaat die Betroffenen »in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten und insbesondere dem absoluten Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unvereinbar ist«. Die Gerichte seien deshalb »zu der Würdigung verpflichtet«, ob es in dem betreffenden Land Schwachstellen gebe. Diese Schwachstellen wiederum müssen allerdings gravierend sein, »eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen«, wie es in der Mitteilung des EuGH heißt, damit sie einer Abschiebung entgegenstehen. Dies sei etwa der Fall bei extremer materieller Not, in der es den Betroffenen nicht möglich sei, elementarste Bedürfnisse zu befriedigen, »wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.« Eine große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse allein erreichten diese Schwelle noch nicht.
Im Fall der fraglichen Abschiebung nach Italien wollte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zudem wissen, wie es sich mit der SechsMonate-Frist für eine Abschiebung in das Einreiseland verhält, wenn sich die betreffende Person der Abschiebung entzieht. In einem solchen Fall genüge es für eine Fristverlängerung auf 18 Monate, »dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt«, so die Richter.
Die deutschen Gerichte müssen nun die vorgelegten Fälle vor dem Hintergrund der EuGH-Urteile bewerten und abschließen.