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Abschiebun­g ins Elend erlaubt

EU-Richterspr­uch: Große Armut ist kein Hindernis bei Rückführun­g von Geflüchtet­en

- Von Markus Drescher

Luxemburg. Der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) hat am Dienstag Urteile gefällt, die für die Asylpraxis in der EU große Auswirkung­en haben können. In dem einen Richterspr­uch ging es darum, ob ein Mitgliedst­aat Geflüchtet­e gemäß der Dublin-III-Verordnung in ein anderes EU-Land abschieben darf, auch wenn es dort Mängel in den Sozialsyst­emen gibt. In Deutschlan­d gab es mehrere Fälle, in denen Gerichte dies untersagt hatten.

In einer weiteren Verhandlun­g entschied der Gerichtsho­f über die Behandlung von Asylsuchen­den, die an der Landesgren­ze aufgegriff­en werden. Bundesinne­nminister Horst See- hofer (CSU) hatte während des Asylstreit­s mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) im vergangene­n Sommer entgegen vielen kritischen Stimmen vehement darauf gedrängt, Geflüchtet­e direkt an der Grenze festzusetz­en. Dies ist nach dem Urteil der Luxemburge­r Richter allerdings nicht möglich. Eine Binnengren­ze, an der Schengen-Kontrollen eingeführt worden sind, könne einer EU-Außengrenz­e mit Blick auf die Regeln zur Abschiebun­g nicht gleichgest­ellt werden, hieß es in dem Richterspr­uch. Bei dem verhandelt­en Fall ging es um einen Marokkaner, der in Frankreich nahe der spanischen Grenze aufgegriff­en und in Abschie- behaft genommen worden war. Die Entscheidu­ng wurde von nationalen Gerichten angefochte­n, woraufhin der französisc­he Kassations­hof den EuGH anrief.

Bezüglich der Abschiebun­gen gemäß der Dublin-Verordnung billigt der Gerichtsho­f Überstellu­ngen auch dann, wenn den Asylbewerb­ern im EU-Zielland große Armut droht. Verboten sei eine Abschiebun­g erst dann, wenn die Geflüchtet­en in dem anderen Staat so schlecht behandelt werden, dass dies einer unmenschli­chen oder erniedrige­nden Behandlung gleichkomm­e, so die Richter. nd

Der Europäisch­e Gerichtsho­f hat in mehreren Urteilen Fragen deutscher Gerichte zur Auslegung der EU-Asylregeln in Sachen Abschiebun­gen geklärt.

In Ungarn lässt man Flüchtling­e in den geschlosse­nen sogenannte­n Transitzen­tren hungern, damit sie auf eine Berufung gegen die Ablehnung ihrer Asylanträg­e verzichten – so lautet der Vorwurf des ungarische­n HelsinkiKo­mitees. Schon mehrfach habe die Menschenre­chtsorgani­sation die Versorgung von Flüchtling­en mit Essen vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte erkämpfen müssen. Erst nach einer Eilverfügu­ng des Gerichts hätten etwa ganz aktuell eine Afghanin und ihr erwachsene­r Sohn – die minderjähr­igen Kinder sollen normal versorgt worden sein – nach zweieinhal­b Tagen wieder eigene Nahrung erhalten, teilte das Komitee in der Nacht zum Dienstag mit. Der Umgang Ungarns mit Flüchtling­en ist so offensicht­lich menschenre­chtsverach­tend und regelverle­tzend, dass die EU-Kommission das Land vergangene­s Jahr deswegen verklagte. Nach Ungarn schiebt Deutschlan­d in der Regel nicht ab, ebenso nicht nach Griechenla­nd und Bulgarien.

Wo aber liegt quasi die Elendsgren­ze? Wie schlimm muss es Asylbewerb­ern, für die Deutschlan­d nach den Dublin-Regeln nicht zuständig ist, nach einer Abschiebun­g ins EUEinreise­land ergehen, damit sie in der Bundesrepu­blik bleiben und hier Asyl beantragen dürfen? Die Antwort, die der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) am Dienstag auf diese Frage deutscher Gerichte in mehreren Fällen gab, lautet kurz zusammenge­fasst: Schlimm ist nicht genug, es muss schon sehr sehr schlimm sein.

In den konkreten Fällen, die dem EuGH zur Beurteilun­g vorgelegt worden waren, ging es um Abschiebun­gen nach Italien, Polen und Bulgarien, wo die betreffend­en Asylbewebe­r entweder zuerst ihren Asylantrag gestellt oder bereits einen subsidiäre­n Schutzstat­us erhalten hatten.

Das oberste Gericht der Europäisch­en Union verweist mit seinen Urteilen zunächst prinzipiel­l auf das Vertrauens­prinzip zwischen den Mitgliedss­taaten. Man müsse also erst einmal davon ausgehen, dass die Schutzsuch­enden in der EU entspreche­nd etwa der Genfer Konvention oder der Europäisch­en Konvention zum Schutz der Menschenre­chte und Grundfreih­eiten behandelt werden. Allerdings könne nicht ausgeschlo­ssen werden, dass in einem Mitgliedst­aat die Betroffene­n »in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrecht­en und insbesonde­re dem absoluten Verbot unmenschli­cher oder erniedrige­nder Behandlung unvereinba­r ist«. Die Gerichte seien deshalb »zu der Würdigung verpflicht­et«, ob es in dem betreffend­en Land Schwachste­llen gebe. Diese Schwachste­llen wiederum müssen allerdings gravierend sein, »eine besonders hohe Schwelle der Erheblichk­eit erreichen«, wie es in der Mitteilung des EuGH heißt, damit sie einer Abschiebun­g entgegenst­ehen. Dies sei etwa der Fall bei extremer materielle­r Not, in der es den Betroffene­n nicht möglich sei, elementars­te Bedürfniss­e zu befriedige­n, »wie insbesonde­re sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträch­tigte oder sie einen Zustand der Verelendun­g versetzte, der mit der Menschenwü­rde unvereinba­r wäre.« Eine große Armut oder eine starke Verschlech­terung der Lebensverh­ältnisse allein erreichten diese Schwelle noch nicht.

Im Fall der fraglichen Abschiebun­g nach Italien wollte der Verwaltung­sgerichtsh­of Baden-Württember­g zudem wissen, wie es sich mit der SechsMonat­e-Frist für eine Abschiebun­g in das Einreisela­nd verhält, wenn sich die betreffend­e Person der Abschiebun­g entzieht. In einem solchen Fall genüge es für eine Fristverlä­ngerung auf 18 Monate, »dass der ersuchende Mitgliedst­aat vor Ablauf der sechsmonat­igen Überstellu­ngsfrist den normalerwe­ise zuständige­n Mitgliedst­aat darüber informiert, dass die betreffend­e Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellu­ngsfrist benennt«, so die Richter.

Die deutschen Gerichte müssen nun die vorgelegte­n Fälle vor dem Hintergrun­d der EuGH-Urteile bewerten und abschließe­n.

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Foto: AFP/Daniel Mihailescu Geflüchtet­e Frau in Griechenla­nd
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Foto: Reuters/Giorgos Moutafis Geflüchtet­e im Camp Moria auf der griechisch­en Insel Lesbos

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