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Mit Franz Kafka in der Zeitmaschi­ne

Tschechien ist Gastland auf der Leipziger Buchmesse: Drei Erzähler erkunden das geheimnisv­olle Prag

- Von Uwe Stolzmann

Eine Reise nach Prag, um zu erfahren, wie heutige Autoren die alte Stadt von Franz Kafka sehen. »Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen«, meinte der berühmte Schriftste­ller einmal.

Wumm! Eine Zeitmaschi­ne beamt mich zurück in die Postmodern­e. Ich lande in einem Saal aus den 1930er Jahren mit runden Tischen und kantigen Formen, mit Deckenleuc­hten so groß wie Eimer und weiten Fenstern, hinaus auf den Fluss.

Prag, das Café Slavia, einst Literatent­reff. Vorsicht! Denn aus der Moldau steigen leuchtende Quallen. Gleich stürzt ein wütender Waran ins Café, und auf dem Flügel im Slavia steppen Pinguine – das sind die Bestien aus dem Bestiarium des Erzählers Michal Ajvaz.

Dieses Jahr ist Tschechien das Gastland auf der Leipziger Buchmesse. Deshalb bin ich nach Prag gereist. Ich möchte wissen: Wie sehen Ajvaz und andere Autoren diese Stadt der Kaiser und Könige? Was denken sie über den Gang der Dinge seit 1989? Und welche Bücher bringen sie mit nach Leipzig?

Panzer auf dem Wenzelspla­tz

Michal Ajvaz ist 70. Er sitzt im Slavia beim Fenster. »Ich bin in Prag geboren, ich habe immer hier gelebt«, sagt er. Ein magischer Ort sei die Stadt gewesen. »Und jeder ist mit jedem verwandt. Meine Patentante war eine Tante von Kafkas Geliebter Milena Jesenská.« Auf den Hügeln jenseits der Moldau ahnt man die Prager Burg, wo 1618 das große Morden begann – der Dreißigjäh­rige Krieg, ein Krieg zwischen zwei Lagern. Ajvaz sieht aus wie ein Statist jener Epoche, ein Böhme aus dem Barock: rundes Gesicht, Flaumbart. Das weiße Haar schulterla­ng. Doch in Gedanken weilt er in anderer Zeit. Er nippt am Cappuccino und sagt: »Das war vor 1989 das Schlimmste – der schlechte Kaffee.«

Ajvaz erzählt: Wie er mit vierzehn süchtig wurde nach Literatur, vor allem nach Kafka. Und wie 1968 die Hoffnung kam, der Prager Frühling. Wenig später standen russische Pan- zer auf dem Wenzelspla­tz, »die Bilder werde ich nie vergessen«. Ajvaz studierte Bohemistik und Ästhetik, er war Hausmeiste­r und Arbeiter. Nebenher schrieb er, Abstraktes und Absurdes.

Traurige Situation

1989 hat Ajvaz als Erzähler debütiert – »genau in der Woche, in der die Revolution stattfand«. Was ist geblieben von jener Revolution und ihren Träumen? »Wir haben eine traurige Situation: Die Gesellscha­ft ist wieder in Lager gespalten. Das eine hört dem anderen nicht zu.« Die Lager, das wären: demokratis­ch oder populistis­ch, pro oder kontra Europa. »Doch ich werde endlich verlegt! Ich kann alle Bücher kaufen. Überall bekommt man guten Kaffee und im Internet sogar die New York Times.«

Herr Ajvaz, wo findet man das magische Prag? Nicht in der Altstadt, denn dort toben die Massen. Die leere Karlsbrück­e zur Nacht – Vergangenh­eit. »Aber es gibt noch magische Orte, am Rand, in Industrieg­ebieten. Laufen Sie doch einfach los!«

Das jüngste Buch von Michal Ajvaz heißt »Die Rückkehr des alten Waran«. Alle Erzählunge­n spielen in Prag, in einer, nun ja, irritieren­den Stadt. Es wimmelt in ihr von trotzigen Tieren, mürrisch wie Menschen, mit einer Vorliebe für akademisch­e Diskurse. Ein Philosoph ist dieser Dichter und ein Fantast. Und ganz sicher ein Schüler jenes Autors, den er schon früh lieben lernte. Ein paarmal im Buch nennt er auch seinen Namen. »Da draußen sitzt Kafka«, sagt Ajvaz, als er schon geht, »auf dem Geländer.« Er weist Richtung Fluss. Dort hockt nur ein Vogel, schwarz, frierend. Kafka? Kavka? Ist tschechisc­h für Dohle.

Der Lover in London

Nördlich der Moldau, jenseits der Brücken, ist Schluss mit Prags K.u.KHerrlichk­eit. Holešovice ist Arbeitervi­ertel. Der Bahnhof Praha-Bubny liegt nahe: Von hier fuhren die Züge nach Theresiens­tadt. Ich habe ein seltsames Buch im Gepäck, die Geschichte einer jungen Frau namens Hana. Sie sucht sich selbst, sucht ihren Platz, vergebens. Und so bricht sie aus – aus der Familie, aus Beziehunge­n, aus dem Land. Sie kehrt zurück und zieht sich zurück. Fortan lebt sie auf einem Hof, in einem Schrank. Das Provisoriu­m wird ihr Platz.

Ein paarmal erscheint auf Hanas Wegen der Unvermeidl­iche. »Franz Kafka« heißt ein Zug, den die Heldin nimmt. Und ein Lover in London, ein Callboy, greift zu einem Buch, bevor es zur Sache geht. Der Lover liest, na was schon? »One morning, when Gregor Samsa woke from troubled dreams ...«

Die Autorin wohnt in einem grauen Haus. Tereza Semotamová sagt auf Deutsch durch die Sprechanla­ge: »Sechster Stock! Stell dich im Fahrstuhl ganz an die Wand und beweg dich nicht.«

Oben geht eine Tür auf, und der Besucher steht mittendrin: in der engen Bleibe einer jungen Frau. Ein Bett, Regale voller Bücher, Kleiderstä­nder und Kochnische. Fenster und Balkon führen zum Hof. Davor steht ein Küchentisc­h, vollgestel­lt mit Krimskrams. 10 000 Kronen zahlt sie für diesen Raum, 400 Euro.

Die unbehauste Generation

Semotamová ist Jahrgang 1983. Sie stammt aus einem Dorf bei Brno, hat Germanisti­k und Drehbuch studiert, sie war im Ausland und kam zurück. Seit fünf Jahren wohnt sie in Prag. »Es ist ein Traum. Ich wollte immer hier leben. Und ich staune immer noch, dass ich hier bin.« Tereza übersetzt und unterricht­et, sie schreibt Hörspiele, Kolumnen, nun auch Prosa. »Im Schrank« ist ihr erster Roman.

Was ist das für ein Wesen, diese Hana? »Das ist unwichtig. Es geht um das Gefühl.« Die junge Frau im Schrank wird zum Sinnbild: für eine Generation, die unbehaust wirkt, weil ihr zu viele Räume offenstehe­n. »Ich bin auch so!«

Beim Balkon, zwischen Sukkulente­n und welken Lilien, liegt ein Kafka-Kalender von 2017, acht mal zehn Zentimente­r, klebrig und wellig. »Den habe ich auf dem Bahnhof gefunden. Und was jemand wegwirft, hebe ich auf. Kafka hat auch in einem Schrank gelebt«, meint sie. »Er hat sich seinen Träumen hingegeben. Träume von Dates, die es nie geben würde. Ich habe Mitleid mit Kafka. Ich würde ihn gern umarmen!«

Ein UFO im Vorgestern gelandet

Zurück in der Altstadt, ein Nachmittag Ende Januar. Treffpunkt: Nová scéna, Neue Szene, ein gläserner Protzbau. Im Haus gibt’s eine Bühne des Nationalth­eaters. Weiter unten glänzt das Café Nona im Chic der Achtziger – als sei ein UFO im Vorgestern gelandet. Auftritt Iva Procházkov­á: moosgrün der Pullover, rot die Würfel ihrer Kette, braunes Haar. »Hier sitzen wir gerne«, erzählt sie, »Leute, die schreiben. Hier hat man seine Ruhe.«

Im Saal oben wird jährlich im April der höchste Literaturp­reis vergeben, der Magnesia Litera. Iva Procházkov­á gehört zur Jury, und sie hat den Preis gleich zweimal selbst bekommen. Was Wunder: Seit Jahrzehnte­n gehört sie zu den besten Autoren von Jugendbüch­ern, auch bei uns.

Grenzdurch­bruch nach Kärnten

Ivas Vater Jan Procházka war ein Wortführer des Prager Frühlings; 1971 ist er gestorben. 1972 machte Iva in Prag Abitur, doch sie durfte nicht studieren. Sippenhaft. Zehn Jahre lang war sie Putzfrau, der Kopf blieb frei. 1975 kam ihr erstes Theaterstü­ck in Prag auf die Bühne; der Bürgermeis­ter ließ es verbieten. Ihr Mann, der Schauspiel­er und Regisseur Ivan Pokorný, hatte ebenfalls zu leiden.

»Irgendwann hatten wir die Nase voll«, sagt Iva im Nová scéna. »Wir hatten ja zwei Kinder.« 1983 reist die Familie über Ungarn nach Jugoslawie­n. Was folgt, ist ein Krimi aus dem Kalten Krieg: ein Grenzdurch­bruch nach Kärnten. Elf Jahre lang lebt die Familie von nun an in der Fremde, in Wien, Konstanz, Bremen; Mitte der Neunziger kehrt sie zurück nach Prag.

In rascher Folge entstehen wunderbare Bücher, Titel wie »Die Zeit der geheimen Wünsche« und »Orangentag­e«. Die Autorin schreibt Romanzen, aber auch düstere Utopien. Habt Mut!, sagt sie ihren jungen Lesern. Seid tolerant! Und kämpft, wofür es zu kämpfen lohnt!

Ein Bulle namens Dreckschwe­in

Wenn Iva Procházkov­á nach Leipzig zur Messe fährt, hat sie einen Krimi im Koffer. »Der Mann am Grund. Der erste Fall von Kommissar Holina«. Holina, Ermittler in Prag, stammt aus der Slowakei. Das Mordopfer ist ein korrupter Polizist, genannt »Dreckschwe­in«; Rauschgift ist im Spiel. Nein, in diesem Buch scheint Prag kein magischer Ort zu sein.

Wie steht es um das Land? Nicht gut, meint die Erzählerin. »Die starken Führer kommen wieder zu Wort. Ein Oligarch ist an der Macht.« Sie mischt sich ein, geht zu Demos. Eben schrieb sie einen Polit-Thriller, in Tschechien erscheint er im April. Die Zutaten sind: Korruption in der Politik, Moskaus langer Arm, Oligarchen-Geld und der Mord an einem Journalist­en.

Februar 2019. Es gibt Fragen zu Fakten in diesem Text. Die Autorin aber liegt im Krankenhau­s, Lungenentz­ündung. Ihr Mann antwortet, Ivan Pokorný. Er schickt Fotos, und so wird die Welt der Iva Procházkov­á plötzlich bunt und greifbar. Dort also entsteht die schöne Literatur, in einer Dachwohnun­g der Prager Altstadt. Ach, übrigens, schreibt Pokorný, und es klingt resigniere­nd: »Gegenüber unserem Haus liegt die Schule, wo der kleine Franz Kafka eine Bank drückte.«

»Da draußen sitzt Kafka«, sagt Ajvaz, »auf dem Geländer.« Dort hockt nur ein Vogel, schwarz, frierend. Kafka? Kavka? Ist tschechisc­h für Dohle.

Michal Ajvaz: Die Rückkehr des alten Waran. A. d. Tschech. v. Veronika Siska. Wieser Verlag, 141 S., geb., 17,90 €. Tereza Semotamová: Im Schrank. A. d. Tschech. v. Martina Lisa. Verlag Voland & Quist, 288 S., geb., 22€.

Iva Procházkov­á: Der Mann am Grund. A. d. Tschech. v. Mirko Kraetsch. Braumüller Verlag, 260 S., geb., 19 €.

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Foto: Imago/Leemage Von Prag nach Leipzig (über Wien) fliegen: Franz Kafka (1. v. l. ) in einer Flugzeugat­trappe 1913 auf dem Wiener Prater (mit Albert Ehrenstein, Otto Pick und Luise Weltsch)

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