Der Staub ist der Herr
Er schrieb über 200 Stücke: Zum 200. Todestag von August von Kotzebue
Dieser Mann ist ein erschütterndes Beispiel für das Grundgesetz aller Existenz: das Vergessenwerden. Nehmen wir uns selber: Stündlich erfinden wir Prioritäten und Popularitäten und Prinzipien, plustern uns ins Bescheidwissen und in eherne Grundsätze hinein – aber der Gedanke an Kotzebue ernüchtert. Just der Staub, den wir um uns herum aufwirbeln, wird regelmäßig und verlässlich zum Herrn über die Welt. Indem er sich setzt. Und bleibt. Und alles verschluckt.
Über 200 (!) Stücke schrieb der 1761 in Weimar Geborene, er war zu seiner Zeit – zwischen Aufklärung, Klassik und Frühromantik – der bekannteste, meistgespielte Dramatiker. Europaweit! Auf jeder Welle ein brillanter Reiter. Ein gnadenvolles Witterungstalent im Aktualitätsbetrieb. Schubert, Beethoven, Weber schrieben Musik zu seinen Texten. Was aber blieb? Der etwas gegoren riechende Name, mehr nicht.
Kotzebues Bühnen-Durchbruch trug den unbedenklich trockenen Titel »Menschenhass und Reue«. Und das Stück »Die deutschen Kleinstädter« führt nach Krähwinkel, wo die Einwohner so verquere Titel führen wie »Herr Bau-, Berg- und Weginspektorssubstitut« und »Frau Untersteuereinnehmerin«. Goethe verachtete diesen Eitlen und Erzreaktionär, und die hochnäsige Hochkulturstätte Weimar wies ihn ab, aber die Massen mochten ihn. Auch dies: ein Beleg. Für den unverwüstlichen Konflikt zwischen Elite und Entertainment, zwischen dem Erziehungsehrgeiz der Intellektuellen und dem Recht des Menschen, sich herzensheiter unterm eigenen Niveau zu entspannen. Vor 200 Jahren, am 23. März 1819, starb August Friedrich Kotzebue einen Tod, der sein Leben im letzten Moment tragödien-
fähig machte: Er wurde in Mannheim von einem Studenten und Burschenschaftler erstochen, der ihn für einen Russenspion hielt. Ein Leben übrigens, in dem sibirische Verbannung vorkam und deren Wiedergutmachung: Landbesitz mit 400 Leibeigenen.
So lehrt ein überaus Prominenter, von den Zeitläuften rücksichtslos gelöscht: Unser Ich ist – trotz aller Präsenz – eine wacklige Erfindung. Sonderheit ist eine flüchtige Größe. Wer seine eigene Vorläufigkeit und die seiner Ideen nicht mitbedenkt, hat Denken schon versäumt. Wir können die Welt noch so sehr in den Schwitzkasten missionarischen Kampftriebs nehmen – kein Sinn, kein Erfolg kann über die Wahrheit hinwegtäuschen: Leben ist eine Pause des Untergangs. Was Kotzebues Schicksal offenbart, hat Günter Kunert zu trefflichem Sarkasmus geformt: Jede Zukunft sei eine Ära der Archäologen, »ihr glücklichster Fund: kein Hinweis auf uns«.
Auf jeder Welle ein brillanter Reiter. Schubert, Beethoven, Weber schrieben Musik zu seinen Texten. Was aber blieb? Der etwas gegoren riechende Name, mehr nicht.