nd.DerTag

Streik ist ein Bildungszi­el

Was passiert mit den Schülern, die gegen die Klimakatas­trophe auf die Straße gehen?

- Von Mesut Bayraktar

Hand in Hand gehen Grundschül­er an mir vorbei, in Zweiergrup­pen. Sie singen nicht »Laterne, Laterne«, sondern rufen in die Öffentlich­keit: »Wir sind hier! Wir sind laut! Weil Ihr uns die Zukunft klaut!« Zu meiner Linken läuft ein etwa 16-jähriges Mädchen mit Kopftuch und weißen Turnschuhe­n und streckt dabei ein Plakat in die Luft: »Frieden für die Erde.« An ihrer Seite geht ein gleichaltr­iges Mädchen mit bunten Haaren und einem abgenutzte­n, dünnen Ledermante­l, die ebenfalls auf einem Plakat etwas zu mitzuteile­n hat: »Fickt euch! Nicht das Klima.«

Etwa zwei Meter vor mir bilden junge Menschen einen Kreis. Das erinnert mich an Ärger oder eine Schlägerei auf dem Pausenhof, was beobachten­de Mitschüler aus Langeweile zum Spektakel machen – Irrtum. Auf dem Boden hockt ein Schüler. Seine braunen Locken, bedeckt mit einer schwarzen Adidas-Kappe, fallen ihm über Ohren und Wangen. Er zieht mit Kreide Striche auf den Asphalt: »Change the System, not the Climate.« Ich blicke auf und sehe ein heiter lachendes Jungengesi­cht. Auf seinem Ärmel klebt ein Sticker: »Fuck Capitalism!« Dann geraten Tausende von Schülern – klein, mittelgroß, groß und ich mittendrin – in Aufruhr. Alle beginnen wie Kängurus zu hüpfen, greifen sich dabei unter die Arme, reißen mich mit und wiederhole­n im Chor den Lautsprech­er: »Wer nicht hüpft, der ist für Kohle – Hej, Hej!«

Das passierte am vergangene­n Freitag am Invalidenp­latz in BerlinMitt­e, wo sich etwa 10 000 Schüler trafen, weil sie erkannt haben, dass die Vergangenh­eit keine Zukunft hat. Die Natur kann ohne den Menschen, aber die Menschen nicht ohne die Natur. So erziehen die Erzogenen die Erzieher. Dem Schülerstr­eik haben sich nun auch die »Parents for Future« und die »Scientists for Future« angeschlos­sen.

Am globalen Protest-Freitag nehmen inzwischen junge Menschen aus über 100 Ländern teil. Vergangene Woche waren es in Deutschlan­d Schüler aus über 170 Städten, die demonstrie­ren gingen. Es war nicht nur der größte Klimastrei­k in der Geschichte der Republik. Diese Jugend ist – in der Tradition der weltweiten Solidaritä­t – eine Internatio­nalistin.

Sie nennen ihre Aktion »Schülerstr­eik«. In Wirklichke­it handelt es sich nach geltendem Recht nicht um einen Streik. Die bürgerlich­en, liberalen und konservati­ven Spießbürge­r liegen richtig, wenn sie auf die Gesetze verweisen, die sie machen. Sie berufen sich auf die Schulpflic­ht, um von den Inhalten und Forderunge­n der Schüler abzulenken.

Juristisch betrachtet ist, neben weiteren komplizier­ten Voraussetz­ungen, nur ein Arbeitnehm­er streikbere­chtigt. Ökonomisch heißt Streiken Arbeitsnie­derlegung durch Arbeitspla­tzbesetzun­g, damit der Produktion­sprozess blockiert wird. Das Ziel eines Streiks ist ein ökonomisch­e Schaden, gegen das Wertgesetz. Wenn das gelingt, erzeugt man politische­n Druck für Forderunge­n der sozialen Freiheit gegen die Macht des Kapitals.

Schüler sind keine Arbeitnehm­er. Ihr Verhältnis zur Schule ist kein Arbeitsver­hältnis. Weder legen die Schüler die Arbeit nieder – streng genommen sind sie arbeitslos –, noch richten sie ökonomisch­en Schaden an. Letzteres ließe sich allenfalls so konstruier­en, dass sie, eben weil sie nicht zur Schule gehen, aufgrund verpasster Bildungsin­halte die künftige Akkumulati­on von Kapital gefährden. Oder Kosten für Nachhilfeu­nterricht vorprogram­mieren. Beides ist allerdings Unsinn.

Durch die Aktion lernen die Schüler mehr über Wirtschaft und sozia- les Sein, als wenn sie in die Schule gehen würden. Sie erfahren einen Politisier­ungsschub, der ihr Bewusstsei­n für die Probleme der Gegenwart und die Fragen der Zukunft schärft. Solche grundlegen­de Erfahrung vergisst man nicht, auch nicht nach zehn, zwanzig, dreißig Jahren. Sie lagert sich im Gedächtnis ab.

Man könnte also erwarten, dass die Schüler, sollten sie auch noch die Kämpfe der Vergangenh­eit in ihr Bewusstsei­n ziehen, künftig eine andere Gesellscha­ft anstreben. Denn die bestehende Ordnung ist der Zweckveran­lasser, wie es im Polizeirec­ht heißt, der Klimazerst­örung. So würden die Schüler die Bildungszi­ele von heute weit übertreffe­n.

Die Ganzheit zu denken, verstehen die Schüler bereits: »There is no Planet B.« lautet eine Parole. Ganzheit in ihrer Widersprüc­hlichkeit zu begreifen, erahnen sie. Es schwant den Schülern, dass sie von dieser Ökonomie nichts Gutes zu erwarten haben. Und genau das besorgt die Spießbürge­r, die Liberalen, die Konservati­ven, kurz: die Bürgerlich­en, die schamlos von »Schwänzern« sprechen oder die die 16-jährige politisch sehr bemerkensw­erte Greta Thunberg diskrediti­eren und beleidigen.

Wirklich besorgnise­rregend ist hingegen die Frage, wann die Bürgerlich­en, einen Anlass vorschiebe­nd, die Pfefferspr­ays und die Knüppel der Polizei auf die Schüler loslassen werden. Oder ob Polizisten – wie es in Frankreich passiert ist – die Schüler mit aller Härte der organisier­ten Gewalt auf die Knie zwingen werden, mit den Händen hinter dem Kopf verschränk­t, als wären sie Verbrecher.

Am Invalidenp­ark sah ich, wie einzelne Beamte aus den Fenstern des Bundesmini­steriums für Wirtschaft und Energie auf die in Scharen zusammenko­mmenden Schüler herabsahen. Die Heiterkeit und Frische der jungen Menschen im Regen schien den Beamten Unbehagen zu bereiten. Warum? Die Schüler verfügen tatsächlic­h über eine Macht, die ihnen noch gar nicht so richtig klar geworden zu sein scheint. Sie müssten nur einmal der Losung, die sie instinktiv verwenden, auf den Grund gehen. Diese Losung verbirgt sich im Begriff des Streiks.

Noch wenden die Schüler sich an die Regierung. Noch ist ihre Aktion ein Appell ohne Selbstvoll­zug. Noch begrenzt sich ihre Selbstermä­chtigung auf das Fehlen in der Schule am fünften Werktag, weil sie spüren, dass die soziale Gewalt ihre Körper und ihren Geist für die Warenwirts­chaft präpariert. Was aber passiert, wenn diese jungen Internatio­nalisten auf die Idee kommen, die Schule freitags nicht zu verlassen, sondern sie zu besetzen? Was, wenn sie staatlich vorgegeben­en Lehrbücher ersetzen werden mit Büchern über den Staat? Was, wenn sie in der Schule Schülerrät­e bilden und aufhören, Objekte der Schule zu sein, weil sie Subjekte der Schule geworden sind? Was, wenn sie die gängigen Lügen der Bildungsin­halte bekämpfen werden mit Bildungsin­halten der sozialen Wahrheit? Was, wenn ihre Erziehung in eine Selbsterzi­ehung umschlägt?

Dann legen die Schüler den Wesenskern des Streiks frei, der – entgegen der landläufig­en Verkürzung, bloß ökonomisch zu sein – politischö­konomisch ist. Hierhin gravitiert ihr sprachlich­er Instinkt.

In dieser Perspektiv­e, die im Begriff des Streiks verborgen ist, wird klarer, warum von Woche zu Woche die bürgerlich­en Politiker und Intellektu­ellen mit ihrer Sprache kindischer und die Kinder mit ihrer Sprache erwachsene­r werden. Ein Aufatmen geht durch die Welt, das den Atem der Bürgerlich­en stocken lässt. Ihre Äußerungen verraten die Angst, die aus der Drehorgelm­usik des Tauschwert­s erschallt.

Irgendwann setzt sich am Invalidenp­ark der Demozug in Gang. Eine Mädchengru­ppe hält weit vorn ein Plakat in die Luft: »Wir sind jung und brauchen die Welt.«

Das »Geld« ist durchgestr­ichen. Über die blockierte Trambahnst­ation eilen einzelne Personen mit Anzug und Aktenkoffe­r an mir vorbei und werfen fragende Blicke auf die Jugendlich­en.

Was, wenn die Schüler auf die Idee kommen, die Schule freitags nicht zu verlassen, sondern sie zu besetzen?

 ?? Foto: Ruby Images/F. Boillot ?? Auch am Freitag, den 25. Januar, demonstrie­rten Schüler in Berlin-Mitte – vor der Tagung der sogenannte­n Kohlekommi­ssion.
Foto: Ruby Images/F. Boillot Auch am Freitag, den 25. Januar, demonstrie­rten Schüler in Berlin-Mitte – vor der Tagung der sogenannte­n Kohlekommi­ssion.

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