Sozioarchitektin
Renée Gailhoustet hat die Arbeit in ihrem Architekturbüro zugunsten architekturtheoretischer Schriften bereits vor 20 Jahren beendet. Das ist verständlich, denn die diesjährige Preisträgerin des Großen Berliner Kunstpreises feiert im September ihren 90. Geburtstag. Das ist aber auch sehr schade, denn Berlin könnte sich glücklich schätzen, wäre diese Grande Dame der französischen Wohnungsbauarchitektur noch in ihrem Beruf aktiv und könnte zu Rate gezogen werden, wenn es an die Umsetzung von zukünftigen Sozialbauvorhaben der Hauptstadt ginge.
Diesen Hinweis ließ der Architekturkritiker Niklas Maak in seiner Laudatio für Gailhoustet fallen. Er würdigte ihre Arbeiten bereits in einem Band über radikal neue Formen des Sozialbaus der 1960er/1970er Jahre und Gailhoustet nun als eine der »wichtigsten, führendsten, auch erfindungsreichsten Architektinnen sowieso«, zu einer Zeit, in der es »ganz wenige Architektinnen überhaupt« gegeben habe.
Oder anders: Die ehemals leitende Stadtplanerin des Pariser Vororts Ivry-sur-Seine ist ein Beispiel dafür, dass wegweisendes Schaffen nicht zu Bekanntheit beiträgt. Vor allem, wenn es sich bei der Person um eine Frau handelt – und noch dazu um eine Kommunistin. Dass Gailhoustet dieser Umstand nicht nur zum Nachteil gereicht hat, mag mit einem Clou zusammenhängen, der ihre Projekte so interessant wie für die Zukunft des Berliner Wohnungsbaus nutzbar erscheinen lässt. Ihre Sozialwohnungen und Kulturzentren stehen für eine Verbindung aus kommunistischer Utopie – Wohnraum für alle – und kapitalistischem Pragmatismus – »hängende Gärten« für diejenigen, die sie sich eigentlich nicht leisten können und denen damit ein lebenswertes Wohnumfeld gewährleistet würde.
Dieser Aspekt muss mit der Verleihung eines Berliner Preises zusammen genannt werden. Eine wirkliche Würdigung wäre es, würden ihre Ideen in einem der zukünftigen Wohnkomplexe einer sozialen Stadt Berlin aufgegriffen werden. Preise und ihre Reden sind schließlich vergänglich.