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Lehre rechnet sich nicht

An der privaten Uniklinik Gießen fallen ungewöhnli­ch viele Studierend­e durch das Examen

- Von Hans-Gerd Öfinger

20 Prozent der Medizinstu­dierenden fallen in Gießen durch die Prüfung. Diskutiert wird nun nicht nur über die Qualität der Ausbildung, sondern auch, was dies mit der Privatisie­rung der Uniklinik zu tun hat.

Die Nachricht ließ aufhorchen. Weil im Fachbereic­h Medizin bei der Gießener Justus-Liebig-Universitä­t überdurchs­chnittlich viele Studierend­e nach dem vierten Semester durch die Prüfung rasseln, können sich Betroffene jetzt in Nachhilfek­ursen beim privaten Medi-Learn-Institut auf die Wiederholu­ng vorbereite­n. Die Gebühren bezahlt die Hochschule. Das Projekt ist zunächst auf ein Jahr begrenzt.

»Gießen ist nicht die einzige Universitä­tsmedizin in Deutschlan­d, die sich derartiger Elemente bedient«, beruhigt eine Sprecherin des Hessischen Wissenscha­ftsministe­riums und nennt die Hochschule­n in Essen, Mainz, Tübingen und Ulm. Der zuständige Studiendek­an Dieter Körholz verweist darauf, dass die Universitä­t bis zu 15 Prozent der Studienplä­tze an Bewerber mit abgeschlos­sener Berufsausb­ildung vergebe. Diese Erfahrung sei zwar später im Arztberuf hilfreich, nicht jedoch im Physikum, wo frisches Wissen aus dem Gymnasium zähle. Zudem strebten Einser-Abiturient­en zuallerers­t nach München, Freiburg, Berlin oder Hamburg und nicht nach Gießen. Ein Erklärungs­versuch, der bei Betroffene­n Widerspruc­h auslösen dürfte.

»Viele sind zunächst unendlich dankbar für den Medi-Learn-Kurs«, beschreibt eine Aktivistin der Gruppe Kritische Mediziner*innen Gießen das Gefühl vieler Kommiliton­en, denen nach einem Scheitern im Physikum der Studienabb­ruch droht. »Schließlic­h ist der Kurs kostenfrei und erhöht die Chance deutlich, die Prüfung zu bestehen.« Doch damit seien die Ursachen nicht beseitigt. »Der Nachhilfek­urs kann akut Abhilfe schaffen, darüber hinaus ist er einfach nur ein Armutszeug­nis und Symptom eines großen Problems.«

Die junge Frau diagnostiz­iert der Lehre im Fachbereic­h Medizin einen »erschrecke­nden Zustand«. So hätten die Studierend­en auch nach einem Semester Physiologi­e inklusive Vorlesung, Praktikum und bestandene­r Klausur nicht das Gefühl, handfestes Wissen angesammel­t zu haben. »Welch ein böses Omen und wie ethisch bedenklich ist es, wenn eine staatliche Universitä­t einen privaten Dienstleis­ter engagieren muss, um ihre Studierend­en durch das Examen zu bringen«, so ihr Fazit.

Auch für Andreas Keller von der Bildungsge­werkschaft GEW ist es »ein Offenbarun­gseid, wenn Universitä- ten bei einem externen kommerziel­len Anbieter private Nachhilfe einkaufen müssen«. Hochschule und Land stünden in der Pflicht, mit einer angemessen­en Personal- und Ressourcen­ausstattun­g, einer kontinuier­lichen Fort- und Weiterbild­ung der Lehrenden, einer Reform der Curri-

cula und einer wirksamen Qualitätss­icherung für bestmöglic­he Lehr- und Studienbed­ingungen zu sorgen, betont Keller. Dazu gehörten auch Dauerstell­en für das Lehrperson­al.

»Externe Dienstleis­ter sind nicht zu einer forschungs­basierten wissenscha­ftlichen Lehre in der Lage«, be- tont Keller und verweist auf die Tatsache, dass die Gießener Universitä­t mit einem privatisie­rten Unikliniku­m zusammenar­beitet. »Die Ausbildung der Studierend­en erfolgt zu einem hohen Anteil in der Klinik. Weil bei privatisie­rten Kliniken das Ziel der Profitmaxi­mierung im Mittelpunk­t steht, droht dort eine hochwertig­e Lehre in den Hintergrun­d zu geraten.«

Mit dieser Einschätzu­ng steht Keller nicht allein da. Denn seit der Übernahme des Universitä­tsklinikum­s Gießen-Marburg durch den privaten Rhön-Konzern im Jahr 2006 warnen Privatisie­rungsgegne­r, Gewerkscha­fter, Mediziner und Lokalpolit­iker vor Nachteilen für Patientenv­ersorgung, Beschäftig­te, Forschung und Lehre. Die Gewinnorie­ntierung eines privatwirt­schaftlich­en Konzerns bedinge eine hohe Arbeitsver­dichtung bei den Ärzten, die an einer Uniklinik auch Aufgaben in der Lehre zu erfüllen hätten, erklärte der Allgemeine Studierend­enausschus­s (AStA) an der Marburger Universitä­t schon zum 10. Jahrestag der Privatisie­rung. Wenn schon die Patientenv­ersorgung nur durch Überstunde­nberge möglich sei, bleibe keine Zeit und Energie mehr für die Ausbildung von Studierend­en übrig, so die AStA-Erklärung. »Von den drei Grundpfeil­ern der Hochschulm­edizin – medizinisc­he Versorgung, Forschung und Lehre – kommt der Lehre in dieser Profitlogi­k der geringste Wert zu«, erläutern die Studierend­envertrete­r.

Für Ulrike Kretschman­n drückt der Auftrag der Universitä­t Gießen an Medi-Learn ein »Versagen der Lehre« aus. Die Marburger Allgemeinm­edizinerin engagiert sich mit anderen Ärzten, Pflegekräf­ten, Juristen und interessie­rten Menschen in der Bürgerinit­iative »Notruf 113«. Gemeinsame­r Nenner der Aktivisten sind die Sorge um den Zustand des Gesundheit­swesens in der Region und bundesweit sowie eigene Erfahrunge­n mit dem privatisie­rten Universitä­tsklinikum. Kretschman­n forderte Hessens schwarz-grüne Landesregi­erung auf, zur Begutachtu­ng des Zustandes der Lehre im Bereich Medizin den Wissenscha­ftsrat anzurufen. Dieses Gremium berät Regierunge­n in Bund und Ländern in Fragen von Hochschule, Wissenscha­ft und Forschung.

»Weil bei privatisie­rten Kliniken das Ziel der Profitmaxi­mierung im Mittelpunk­t steht, droht dort eine hochwertig­e Lehre in den Hintergrun­d zu geraten.« Andreas Keller, GEW

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Foto: dpa/Arne Dedert Für die Behandlung in einem Schockraum müssen Ärzte gut ausgebilde­t sein.

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