Lehre rechnet sich nicht
An der privaten Uniklinik Gießen fallen ungewöhnlich viele Studierende durch das Examen
20 Prozent der Medizinstudierenden fallen in Gießen durch die Prüfung. Diskutiert wird nun nicht nur über die Qualität der Ausbildung, sondern auch, was dies mit der Privatisierung der Uniklinik zu tun hat.
Die Nachricht ließ aufhorchen. Weil im Fachbereich Medizin bei der Gießener Justus-Liebig-Universität überdurchschnittlich viele Studierende nach dem vierten Semester durch die Prüfung rasseln, können sich Betroffene jetzt in Nachhilfekursen beim privaten Medi-Learn-Institut auf die Wiederholung vorbereiten. Die Gebühren bezahlt die Hochschule. Das Projekt ist zunächst auf ein Jahr begrenzt.
»Gießen ist nicht die einzige Universitätsmedizin in Deutschland, die sich derartiger Elemente bedient«, beruhigt eine Sprecherin des Hessischen Wissenschaftsministeriums und nennt die Hochschulen in Essen, Mainz, Tübingen und Ulm. Der zuständige Studiendekan Dieter Körholz verweist darauf, dass die Universität bis zu 15 Prozent der Studienplätze an Bewerber mit abgeschlossener Berufsausbildung vergebe. Diese Erfahrung sei zwar später im Arztberuf hilfreich, nicht jedoch im Physikum, wo frisches Wissen aus dem Gymnasium zähle. Zudem strebten Einser-Abiturienten zuallererst nach München, Freiburg, Berlin oder Hamburg und nicht nach Gießen. Ein Erklärungsversuch, der bei Betroffenen Widerspruch auslösen dürfte.
»Viele sind zunächst unendlich dankbar für den Medi-Learn-Kurs«, beschreibt eine Aktivistin der Gruppe Kritische Mediziner*innen Gießen das Gefühl vieler Kommilitonen, denen nach einem Scheitern im Physikum der Studienabbruch droht. »Schließlich ist der Kurs kostenfrei und erhöht die Chance deutlich, die Prüfung zu bestehen.« Doch damit seien die Ursachen nicht beseitigt. »Der Nachhilfekurs kann akut Abhilfe schaffen, darüber hinaus ist er einfach nur ein Armutszeugnis und Symptom eines großen Problems.«
Die junge Frau diagnostiziert der Lehre im Fachbereich Medizin einen »erschreckenden Zustand«. So hätten die Studierenden auch nach einem Semester Physiologie inklusive Vorlesung, Praktikum und bestandener Klausur nicht das Gefühl, handfestes Wissen angesammelt zu haben. »Welch ein böses Omen und wie ethisch bedenklich ist es, wenn eine staatliche Universität einen privaten Dienstleister engagieren muss, um ihre Studierenden durch das Examen zu bringen«, so ihr Fazit.
Auch für Andreas Keller von der Bildungsgewerkschaft GEW ist es »ein Offenbarungseid, wenn Universitä- ten bei einem externen kommerziellen Anbieter private Nachhilfe einkaufen müssen«. Hochschule und Land stünden in der Pflicht, mit einer angemessenen Personal- und Ressourcenausstattung, einer kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung der Lehrenden, einer Reform der Curri-
cula und einer wirksamen Qualitätssicherung für bestmögliche Lehr- und Studienbedingungen zu sorgen, betont Keller. Dazu gehörten auch Dauerstellen für das Lehrpersonal.
»Externe Dienstleister sind nicht zu einer forschungsbasierten wissenschaftlichen Lehre in der Lage«, be- tont Keller und verweist auf die Tatsache, dass die Gießener Universität mit einem privatisierten Uniklinikum zusammenarbeitet. »Die Ausbildung der Studierenden erfolgt zu einem hohen Anteil in der Klinik. Weil bei privatisierten Kliniken das Ziel der Profitmaximierung im Mittelpunkt steht, droht dort eine hochwertige Lehre in den Hintergrund zu geraten.«
Mit dieser Einschätzung steht Keller nicht allein da. Denn seit der Übernahme des Universitätsklinikums Gießen-Marburg durch den privaten Rhön-Konzern im Jahr 2006 warnen Privatisierungsgegner, Gewerkschafter, Mediziner und Lokalpolitiker vor Nachteilen für Patientenversorgung, Beschäftigte, Forschung und Lehre. Die Gewinnorientierung eines privatwirtschaftlichen Konzerns bedinge eine hohe Arbeitsverdichtung bei den Ärzten, die an einer Uniklinik auch Aufgaben in der Lehre zu erfüllen hätten, erklärte der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) an der Marburger Universität schon zum 10. Jahrestag der Privatisierung. Wenn schon die Patientenversorgung nur durch Überstundenberge möglich sei, bleibe keine Zeit und Energie mehr für die Ausbildung von Studierenden übrig, so die AStA-Erklärung. »Von den drei Grundpfeilern der Hochschulmedizin – medizinische Versorgung, Forschung und Lehre – kommt der Lehre in dieser Profitlogik der geringste Wert zu«, erläutern die Studierendenvertreter.
Für Ulrike Kretschmann drückt der Auftrag der Universität Gießen an Medi-Learn ein »Versagen der Lehre« aus. Die Marburger Allgemeinmedizinerin engagiert sich mit anderen Ärzten, Pflegekräften, Juristen und interessierten Menschen in der Bürgerinitiative »Notruf 113«. Gemeinsamer Nenner der Aktivisten sind die Sorge um den Zustand des Gesundheitswesens in der Region und bundesweit sowie eigene Erfahrungen mit dem privatisierten Universitätsklinikum. Kretschmann forderte Hessens schwarz-grüne Landesregierung auf, zur Begutachtung des Zustandes der Lehre im Bereich Medizin den Wissenschaftsrat anzurufen. Dieses Gremium berät Regierungen in Bund und Ländern in Fragen von Hochschule, Wissenschaft und Forschung.
»Weil bei privatisierten Kliniken das Ziel der Profitmaximierung im Mittelpunkt steht, droht dort eine hochwertige Lehre in den Hintergrund zu geraten.« Andreas Keller, GEW