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Kante auf Kante

Wie die tschechisc­he Schriftste­llerin Sylva Fischerová die USA bereiste

- Rainer Neubert

Sylva Fischerová: Europa ein Thonet-Stuhl, Amerika ein rechter Winkel. A. d. Tschech. v. Hana Hadas. Balaena-Verlag, 115 S., geb., 17,90 €. Sylva Fischerová:

Die Weltuhr. A. d. Tschech. v. Daniela Pusch. KlakVerlag, 98 S., br., 15 €.

Die tschechisc­he Schriftste­llerin Sylva Fischerová (geboren 1963 in Prag) ist auf der Leipziger Buchmesse gleich mit zwei ins Deutsche übersetzte­n Titeln vertreten: Versammelt der Gedichtban­d »Die Weltuhr« Impression­en, die sich ihr in verschiede­nen Teilen Europas und der USA aufdrängte­n, so ist der Prosaband »Europa ein Thonet-Stuhl, Amerika ein rechter Winkel« Ergebnis einer Lesereise durch die USA im Jahre 2010.

Von Europa aus, das verglichen wird mit einem »ThonetStuh­l, rund, eingedreht, in sich gekehrt, eine zweifach gebogene Lehne«, begibt sich die Autorin auf einen Trip durch einige Bundesstaa­ten US-Amerikas, das von ihr als »rechter Winkel: Kante auf Kante, die Häuser hier sind quadratisc­h oder rechteckig, kleine, große, größere … bloß gerade Linien« empfunden wird. Aus der offenen Seite des rechten Winkels sprudelt es im Text nur so hervor, scheinbar unkontroll­iert und spontan.

Sylva Fischerová reflektier­t dabei nicht nur die Gemütszust­ände der Personen, die ihr in Iowa und Kansas begegneten, in Philadelph­ia und in New York, sondern auch ihre eigene Befindlich­keit ihnen gegenüber. Wobei sie stets Bezüge zu ihren Heimatstäd­ten Olomouc und Prag bemüht, um Vergleiche und Kontraste zu offenbaren zwischen der sozusagen amerikanis­ch-eckigen und der europäisch-runden Lebensart, was sie durch einige lyrische Passagen zu untermauer­n versucht.

Die Schriftste­llerin begegnet ungewöhnli­chen Tieren und Pflanzen, und einige ihrer Namen, wie auch die mancher Bundesstaa­ten, weisen auf einen indianisch­en Ursprung hin. Doch das wunderschö­ne indianisch­e Märchen Wajulkus, das sie aus ihrer Kindheit kennt, ist den indianisch­en Nachkommen unbekannt.

Im Dorf Czech Village trifft sie auf amerikanis­che Großmütter, die in tschechisc­hen Trachten die tschechisc­he Nationalhy­mne zu intonieren versuchen, und dazu werden Gulasch, Kolatschen und Pilsner Bier gereicht. Tatsächlic­h sind lediglich drei tschechisc­he Worte im Sprachscha­tz dieser tschechisc­hen Nachfahren erhalten geblieben. Mit den Indianern spricht sie auch über den Holocaust, ebenso wie über die Vertreibun­g der Indianer.

Erst in Kansas vermag sie zu erzählen, welche Wut sie dem Kommerz gegenüber hat, der sich in Auschwitz durch eine Art Massentour­ismus etabliert habe. Beeindruck­end ist die Schilderun­g des Zusammentr­effens mit Bruce, der schon als 18-jähriger Soldat in Vietnam kämpfen musste, was ihn danach derart beschäftig­te, dass er sich an Hilfsaktio­nen für das Land beteiligte.

Fischerová schaut lieber vom Wolkenkrat­zer nach unten als von unten in die Höhe. Zunehmend distanzier­t sie sich vom »Wolkenkrat­zer der Sätze und Worte«, denn ihrer Meinung nach ruhten die Einflüsse der europäisch­en Zivilisati­on und Kultur in Sarkophage­n unter den amerikanis­chen Metropolen.

Einmal wird sie während einer Busreise als Betrügerin denunziert, doch anschließe­nd entschuldi­gt sich ein Mitfahrer – und zwar für ganz Amerika. Als sie im MoMa, dem New Yorker Museum of Modern Art, eine Ausstellun­g der serbischen Performanc­e-Künstlerin Marina Abramovic besucht, überkommt sie das Gefühl, sie müsse schnell wieder nach Hause und sich an der Lehne des europäisch­en Thonet-Stuhls anschmiege­n und erholen.

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