Zwei Herren mit Herz
Jaroslav Rudiš erzählt von Liebe und Tod – und von der Eisenbahn
Jaroslav Rudiš : Winterbergs letzte Reise. Luchterhand, 544 S., geb., 24 €.
Der tschechisch-deutsche Seelenforscher Jaroslav Rudiš schickt in seinem neuen Roman »Winterberg« zwei milde Todesschelme auf eine halbverschneite Eisenbahnreise durch Osteuropa. Metaphorisch könnte man sagen: Sie picknicken vor dem Eingang der Schattenwelt. Denn sie haben ihre Toten dabei, und zwar im Kopf: Tote Geliebte, tote Tschechen und tote vertriebene Deutsche turnen geisterhaft durchs Geschehen.
Winterberg ist 99 und Kraus ist sein Pfleger. Der Grund für diese Reise ist anscheinend der, dass Winterberg das Ende nahen fühlt. Er will unter allen Umständen mit dem Zug nach Sarajewo, um dort den Tod seiner geliebten Lenka zu rächen. Seines jüdischen Mädchens aus Reichenberg/Liberec, das einst verraten und von den Nazis ermordet wurde. Dafür hat er einen Strick und eine Pistole im Gepäck. Der Greis und sein Pfleger bereisen die Landschaften der Winterberg’schen Vergangenheit, wo sich die Winterberg-Orte aber immer wieder mit KrausOrten überschneiden. Denn beide stammen ursprünglich aus Tschechien, der eine wurde 1945 aus dem Land vertrieben, der andere hat sich in den 80er Jahren spektakulär davongemacht.
Der Pfleger Kraus, dessen Geschäft es ist, Menschen auf ihrem letzten Weg zu begleiten, hat seine tote Liebe Carla auf der Schulter sitzen, die ihm seinen Lebenssaft aussaugt. Den versucht er sich beim notorischen Pilsbiertrinken zurückzuholen, ein fast unmögliches Unterfangen.
Wer pflegt hier eigentlich wen, fragt man sich im Verlauf des Romans. Diese wichtige Frage wird ebenso ausführlich beantwortet wie die nach dem besten Gulasch, aber auch die nach der besten Leiche – denn Winterbergs Vater war Bestatter in Reichenberg/Liberec und hatte dort als Erster die Feuerhalle eingeführt, also das Krematorium. Er gab seinem Sohn das Wissen weiter, über die Schönheit der Wasserleichen, der Strang- und Kopfschussleichen.
Auf der Fahrt, die ab und an unterbrochen wird, um Schlachtfelder (Königgrätz, Austerlitz), Friedhöfe und Bahnhöfe zu besuchen, quasselt Winterberg pausenlos von schönen oder unschönen Leichen und seiner Lenka, genannt die Frau im Mond, denn das war der letzte Film, den er mit ihr im Kino sah. Er redet auch von Straßenbahnen und und rezitiert seinen Baedeker von 1913 (die einzige Orientierungshilfe) und versucht, die Aufmerksamkeit der Damenwelt zu erringen. Kraus trinkt sich indes anhaltend trau- rig in Speisewagen und Kneipen in den Nebel.
Die wunderbare Bahnfahrt der zwei bekümmerten Herrenherzen führt uns von Berlin über Dresden, Böhmen, Prag, Pilsen, Wien, Brünn, Bratislava, Budapest, Zagreb und vielleicht bis nach Sarajewo.
»Winterberg« ist ein lustiger Totenroman, ein schmerzhafter Liebesroman, ein kunstvoller Bahnroman. Ein fabelhaftes Buch voll Anekdoten und Geschichten über das Lieben und das Getötetwerden – immer wieder unterbrochen von den Bahn- und Straßenbahnmonologen der Titelfigur. Die hasst nichts mehr als Busse, die seien der Untergang der Reisekultur. Besonders schlimm: die Ersatzbusse und einäugige Ersatzbusfahrer.
»Die Verrückten müssen zusammenhalten. Und die Verlorenen auch«, schreibt Jaroslav Rudiš, und er hat so recht! Die deutsch-tschechische Geschichte des 20. Jahrhunderts kennt kein Pardon, doch Jaroslav Rudiš jongliert in »Winterberg« gekonnt mit heißen Eisen, ohne jemals die Balance zu verlieren.