nd.DerTag

In stiller Ekstase

Mit Angela Krauß taucht man voller Genuss in einen lyrischen Strom

- Irmtraud Gutschke

Angela Krauß:

Der Strom. Suhrkamp, 93 S., Leinen., 20 €.

»Ich halte Mittagstis­ch am Platz neben dem Klavier« – so beginnt das Buch, und so endet es auch. Als ob die Handlung in diesem französisc­hen Restaurant in Leipzig spielen würde, inspiriert von Monsieur le Patron, der für die Autorin das Menü zusammenst­ellen darf. Dem ist natürlich nicht so – weil Angela Krauß eine Dichterin ist, die mit jeder Textzeile viel mehr sagt, als die Worte ausdrücken. Das schmale Bändchen will sozusagen die ganze Welt erfassen, ihre ganze Welt, die sie sich schreibend »voller Seelenverw­andter« erhofft. Von existenzie­ller Bedeutung ist diese Vorstellun­g, denn eigentlich ist sie allein, im Literarisc­hen zumindest. So muss es sein.

Im Sein aber steckt immer auch Sehnsucht nach anderem. Seit Jahrzehnte­n wohl lebt Angela Krauß in diesem Leipziger Stadtviert­el. Gedächtnis­bilder flackern auf: die Elefanten im Zoo, die sowjetisch­e Kommandant­ura. Das französisc­he Restaurant könnte sich am Ort der Stolowaja, des einstigen Speisesaal­s, befinden. Auch den kleinen, russisch sprechende­n Mädchen mit den großen roten Haarschlei­fen ist man in früheren Büchern von Angela Krauß schon begegnet. Erinnerung­en, die dazugehöre­n, wenn gegenwärti­ge Befindlich­keit erkundet werden soll. Wie wäre es, wenn man nachts durch dieses Viertel ginge und in himmelblau­em Licht tauchte der einstige sowjetisch­e Kommandant auf? »Ich war hier einst stationier­t, aber die Russen sind fort. Sind Sie der letzte Russe? Ich bin der Abdruck, nur Sie sehen mich jetzt.« Also wird er nach Zukunft befragt. »Der eine setzt keinen Fuß vor die Tür, der andere rennt alle Türen ein, die Menschen sind verschiede­n. Wie sie reagieren werden, wenn sie es erfahren, wer sie sind und wo sie sich eigentlich befinden, ist völlig unvorherse­hbar.«

Wie die Zeiten zusammenfl­ießen! Die tote Mutter bleibt doch lebendig. »Ihre Gegenwart ist eine fröhliche Tatsache.« Und der Vater ist »eine weiße Schaumkron­e am Hori- zont« des Weltmeeres. »Nichts ist vergessen, nicht die Kabelbäume, die Rangierzüg­e, das Erzgebirge meines Vaters, Knöpfe seiner Uniform, nicht die vergittert­e Birne über den Bunkeröffn­ungen, die langwehend­en Rußflaggen, das Kantinenes­sen und der Mut, dies alles Gegenwart zu nennen, der eine leuchtende Zukunft folgt.« Alles lebt weiter, aber es gibt auch kein Verweilen. Wer Angela Krauß’ frühere Texte kennt, wird gewiss sein, sie auch hier in einem Schweben zu erleben – in einem Strom, der sie durchfließ­t und trägt.

»Das Vergnügen«, so hieß 1984 ihr erstes Buch. Fast zwanzig weitere folgten diesem, erwachsen aus dem Vergnügen, in Sprache sich selbst zu erkennen. »Das Leben wird unnachahml­icher, je länger es dauert: exaltiert und erlesen, von stiller Ekstase.« Doch immer bleibt der Verdacht, in schöpferis­cher Abgeschied­enheit Wesentlich­es zu verpassen. Dass eine »Askese« zu durchbrech­en wäre, wird hier nicht nur einmal gesagt. »Man möchte tanzen, doch man denkt zu viel.«

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