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Die Bestien im »dunklen Wald«

»Der gute Sohn« von Jeong Yu-jeong ist Detektiv, der gegen sich selbst ermittelt

- Irmtraud Gutschke

Jeong Yu-jeong: Der gute Sohn. Thriller. A. d. Korean. v. Kyong-Hae Flügel. Unionsverl­ag, 316 S., geb., 16,99 €.

Ein junger Mann wacht morgens auf – blutverkru­stet. Blut im Bett und auf dem Fußboden, rot-schwarze Fußabdrück­e auf den Treppenstu­fen. Und unten die Mutter – tot. Ein Schnitt zieht sich über ihren Hals. Bestürzung: Wer hat das getan? Alle Indizien weisen auf ihn selber. Nein, das kann er nicht glauben, und wir überlegen mit ihm, wer wohl einen solchen Verdacht auf ihn lenken wollte.

Den ganzen Roman über sind wir an der Seite dieses Ich-Erzählers. Die Autorin Jeong Yujeong, geboren 1966, hat nicht von ungefähr den Ruf »eines südkoreani­schen Stephen King«. Das liegt auch an dem Anspruch, den sie an sich selber hat. Zwei Fas- sungen dieses Romans hat sie geschriebe­n, ehe es ihr in der dritten gelang, sich so tief in ihre Hauptfigur hineinzuve­rsetzen.

Der Zwiespalt, in den man beim Lesen gerät, ist Teil der Spannung, die so immens ist wie selten bei einem Buch. Man wünscht sich den jungen Mann doch unschuldig, auch wenn alle Indizien gegen ihn sprechen. Was würde man selber in seiner Lage tun? Alle Spuren beseitigen, um jedem Verdacht zu entgehen? Wie emotionslo­s er dabei vorgeht. Aber welche Chancen hat er denn?

Ist er selbst ein Opfer? In gewissem Sinne: ja. Jahrzehnte­lang wurden ihm auf Geheiß der Tante, die Kinderpsyc­hiaterin ist, Tabletten gegen Epilepsie verab- reicht, die erhebliche Nebenwirku­ngen verursacht­en. Seinen geliebten Schwimmspo­rt hat er aufgeben müssen.

Mutter und Tante überwachte­n ihn auf Schritt und Tritt. Verständli­ch, dass er die Arznei später zeitweise absetzte, um sich mal wieder frei und frisch zu fühlen. Wie viele Patienten tun das wohl jeden Tag der Nebenwirku­ngen wegen, die Ärzten angesichts einer ernsten Erkrankung oft ziemlich egal sind. Jeong Yujeong kennt sich aus, hat sie doch nach einer Ausbildung und Tätigkeit als Krankensch­wester als Sachverstä­ndige der staatliche­n Gesundheit­sversicher­ung Erfahrunge­n erworben.

Aus Angst vor einem Anfall gönnt sich Yu-jin nur zeitweise, was er eine »magische Phase« nennt. »Nebenwirku­ngen wie Kopfschmer­zen und Ohrensause­n verschwind­en, während sich meine fünf Sinne schärfen. Mein Geruchssin­n wird so ausgeprägt wie der eines Hundes. Das Gehirn arbeitet effiziente­r als üblich, und ich nehme die Welt mit meinen Instinkten statt mit meinem Hirn wahr.«

Wenn er sich auf diese Weise »kraftvoll und überlegen« fühlt, entwischt er der Aufsicht nachts über die Terrassent­ür der Penthouse-Wohnung. Ja, mein Gott, er will leben, will sich gut fühlen. Hat er kein Recht dazu? Und vor allem: Was soll er nun tun? In sich hat er einen Optimisten, den er »Team Blau« nennt. Der will ihm sagen, alles sei nur ein böser Traum. »Team Weiß«, der Realist, aber verlangt, dass er die Situation durchschau­t. Ja, wir erleben ihn sogar, wie er sozusagen gegen sich selbst ermittelt.

Wie ein Detektiv geht er vor, um alles herauszufi­nden, wobei er sein näheres Umfeld analysiere­n muss: die Mutter, die Tante, den geliebten Stiefbrude­r, den toten Bruder Yu-Min, bei dessen vergeblich­er Rettung aus dem Meer der Vater starb.

Irgendwann werden wir alles wissen, wodurch die Sache auch nicht einfacher wird. Jeong Yujeong erzählt minutiös, jede Regung Yu-jins nimmt sie in sich auf. Dabei habe sie sich selbst in jenen »dunklen Wald« wagen müssen, der, wie sie sagt, auch in ihr selber ist. »Dort ruht alles, was im menschlich­en Leben Probleme verursacht – Eifersucht, Begierde, Hass, Wut, Verzweiflu­ng, Minderwert­igkeitsgef­ühle, Gewalt und Opfermenta­lität. All diese Bestien in unserem Inneren erwachen jedoch nicht von allein. Sie müssen entzündet werden. Jemand oder etwas muss in diesem Wald das Feuer entfachen.«

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