Das Ich in der Krise
Zehn neue und alte Kurzgeschichten von Jeffrey Eugenides
Mit dem Erzählband »Das große Experiment« meldet sich Jeffrey Eugenides zurück. In zehn Kurzgeschichten thematisiert er das Scheitern an den eigenen Ansprüchen, erzählt von Vermessenheit und Alter.
Er selbst ist Jahrgang 1960 und gehört neben Michael Chabon, Bret Easton Ellis und Jonathan Franzen zu den bekanntesten männlichen US-Autoren seiner Generation. Sein 2002 erschienener Roman »Middlesex« verkaufte sich mehr als vier Millionen Mal und wurde ein Jahr später mit dem Pulitzer-Preis für Belletristik ausgezeichnet. Der Roman triumphierte durch seine emotionale Fülle, die mit Autorität und Anmut geliefert wurde, hieß es damals in der Begründung. Einem größeren Publikum war Eugenides Ende der 90er Jahre durch die Verfilmung seines Debüts »Die SelbstmordSchwestern« durch Sofia Coppola inklusive des Soundtracks der französischen Synthie-PopBand Air bekannt geworden. Sein letzter Roman erschien 2011: In »Die Liebeshandlung« erzählt er von drei Studierenden, die in einem Liebesdreieck verstrickt sind.
»Das große Experiment« vereint nun Kurzgeschichten aus den Jahren 1988 bis 2017, von denen drei bereits 2003 in Deutschland in Buchform veröffentlicht wurden. Auch wenn der deutsche Titel vielleicht vielversprechend und optimistisch wirken mag, ist der englische Titel »Fresh Complaint« – Neueste Beschwerde – treffender. Denn viele der Experimente in diesen Geschichten sind gescheitert. Eugenides entwirft eine Welt des Danach, die von den Geistern einer vergangenen Zukunft durchdrungen ist.
Die Individuen leiden – oft sind es Geldsorgen. In »Alte Musik« sind die Protagonisten Rebecca und Rodney verfangen in der Suche nach persönlicher und be- ruflicher Selbstverwirklichung, nachhaltig geprägt durch einen Aufenthalt im eingemauerten, subventionierten Westberlin, das die Leute bis zur Orientierungslosigkeit »auseinandergenommen und neu wieder zusammengesetzt« habe. Das Klammern an die Ego-Pflege wird nicht mal durch die Elternschaft gelöst und trägt schlussendlich absurde Züge: Rodney verschuldet sich mit dem Kauf eines alten Instruments, und Rebecca näht duftende Stoffmäuse, um die Familie über Wasser zu halten.
Den schlecht bezahlten Lektor Kendall hingegen, treffend beschrieben als »verheirateter Junggeselle im bürgerlichen Elend«, plagt in »Das große Experiment« sein Gewissen, weil die Abgrenzung gegenüber der Elterngeneration auf Kosten der Kinder aufrechterhalten wird: »War es nicht eine geniale Idee gewesen, die brasilianische Hängematte als Wickeltisch zu benutzen? Und das Poster von Beck, der auf die Wiege herabblickte und gleichzeitig ein Loch in der Wand verdeckte?« Er tappt schließlich in die Falle, weil er zwar ein alternatives Leben führen möchte, aber dennoch über die Insignien finanziell gut aufgestellter Leute verfügen, zum Beispiel über einen Range Rover.
Das von einigen Figuren gepflegte Selbstverwirklichungssyndrom der Late-Baby-Boomer lässt sie die politische Tragweite ihrer Situation ignorieren. Sorgen, Zweifel, Fragen und Enttäuschungen werden im Privaten und in der Gedankenwelt der Figuren verhandelt. »Ich bin für zwei Wochen hergekommen, vielleicht bleibe ich auch einen Monat. Warum, möchte ich nicht erörtern«, bekennt der Ich-Erzähler in »Timesharing«, der in das Motel seiner Eltern in Florida zieht, die sich bereits mit anderen Hotelprojekten und Fertighäusern übernommen haben. Aufgrund der Schulden bröckelt auch bei den Eltern die Vorstellung von einer besseren Zukunft; der erwachsene Sohn sehnt sich lediglich nach ein paar neuen Schuhen und wartet auf sein Erbe – wie auch immer das ausfallen mag.
Irgendetwas läuft falsch. Oder ist falsch gelaufen. Nur was? Sind es lediglich die Handlungen der selbstsüchtigen Protagonisten, die bisweilen groteske Züge tragen? Oder warum muss eine an Demenz leidende 88Jährige in »Klagende« auf die Hilfe einer Freundin hoffen statt auf die des Staates oder die ihrer Söhne? Zuflucht vor den ungeklärten Fragen bieten einigen Figuren Literatur, Musik und Religion. Letztere führt in »Air Mail« schließlich zur heilenden Auflösung des Ichs.
Eugenides zeigt vielfach seine Figuren beim Scheitern, die dem in Amerika gesetzlich verankerten Streben nach Glück nicht standhalten. Die Beiträge aus den 90er und 00er Jahren sind stärker, da sie ein helles Licht auf die Gegenwart werfen.
Jeffrey Eugenides: Das große Experiment. A. d. Amerik. v. Gregor Hens. Rowohlt, 336 S., geb., 22 €.