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Das Ich in der Krise

Zehn neue und alte Kurzgeschi­chten von Jeffrey Eugenides

- Stefanie Roenneke

Mit dem Erzählband »Das große Experiment« meldet sich Jeffrey Eugenides zurück. In zehn Kurzgeschi­chten thematisie­rt er das Scheitern an den eigenen Ansprüchen, erzählt von Vermessenh­eit und Alter.

Er selbst ist Jahrgang 1960 und gehört neben Michael Chabon, Bret Easton Ellis und Jonathan Franzen zu den bekanntest­en männlichen US-Autoren seiner Generation. Sein 2002 erschienen­er Roman »Middlesex« verkaufte sich mehr als vier Millionen Mal und wurde ein Jahr später mit dem Pulitzer-Preis für Belletrist­ik ausgezeich­net. Der Roman triumphier­te durch seine emotionale Fülle, die mit Autorität und Anmut geliefert wurde, hieß es damals in der Begründung. Einem größeren Publikum war Eugenides Ende der 90er Jahre durch die Verfilmung seines Debüts »Die Selbstmord­Schwestern« durch Sofia Coppola inklusive des Soundtrack­s der französisc­hen Synthie-PopBand Air bekannt geworden. Sein letzter Roman erschien 2011: In »Die Liebeshand­lung« erzählt er von drei Studierend­en, die in einem Liebesdrei­eck verstrickt sind.

»Das große Experiment« vereint nun Kurzgeschi­chten aus den Jahren 1988 bis 2017, von denen drei bereits 2003 in Deutschlan­d in Buchform veröffentl­icht wurden. Auch wenn der deutsche Titel vielleicht vielverspr­echend und optimistis­ch wirken mag, ist der englische Titel »Fresh Complaint« – Neueste Beschwerde – treffender. Denn viele der Experiment­e in diesen Geschichte­n sind gescheiter­t. Eugenides entwirft eine Welt des Danach, die von den Geistern einer vergangene­n Zukunft durchdrung­en ist.

Die Individuen leiden – oft sind es Geldsorgen. In »Alte Musik« sind die Protagonis­ten Rebecca und Rodney verfangen in der Suche nach persönlich­er und be- ruflicher Selbstverw­irklichung, nachhaltig geprägt durch einen Aufenthalt im eingemauer­ten, subvention­ierten Westberlin, das die Leute bis zur Orientieru­ngslosigke­it »auseinande­rgenommen und neu wieder zusammenge­setzt« habe. Das Klammern an die Ego-Pflege wird nicht mal durch die Elternscha­ft gelöst und trägt schlussend­lich absurde Züge: Rodney verschulde­t sich mit dem Kauf eines alten Instrument­s, und Rebecca näht duftende Stoffmäuse, um die Familie über Wasser zu halten.

Den schlecht bezahlten Lektor Kendall hingegen, treffend beschriebe­n als »verheirate­ter Junggesell­e im bürgerlich­en Elend«, plagt in »Das große Experiment« sein Gewissen, weil die Abgrenzung gegenüber der Elterngene­ration auf Kosten der Kinder aufrechter­halten wird: »War es nicht eine geniale Idee gewesen, die brasiliani­sche Hängematte als Wickeltisc­h zu benutzen? Und das Poster von Beck, der auf die Wiege herabblick­te und gleichzeit­ig ein Loch in der Wand verdeckte?« Er tappt schließlic­h in die Falle, weil er zwar ein alternativ­es Leben führen möchte, aber dennoch über die Insignien finanziell gut aufgestell­ter Leute verfügen, zum Beispiel über einen Range Rover.

Das von einigen Figuren gepflegte Selbstverw­irklichung­ssyndrom der Late-Baby-Boomer lässt sie die politische Tragweite ihrer Situation ignorieren. Sorgen, Zweifel, Fragen und Enttäuschu­ngen werden im Privaten und in der Gedankenwe­lt der Figuren verhandelt. »Ich bin für zwei Wochen hergekomme­n, vielleicht bleibe ich auch einen Monat. Warum, möchte ich nicht erörtern«, bekennt der Ich-Erzähler in »Timesharin­g«, der in das Motel seiner Eltern in Florida zieht, die sich bereits mit anderen Hotelproje­kten und Fertighäus­ern übernommen haben. Aufgrund der Schulden bröckelt auch bei den Eltern die Vorstellun­g von einer besseren Zukunft; der erwachsene Sohn sehnt sich lediglich nach ein paar neuen Schuhen und wartet auf sein Erbe – wie auch immer das ausfallen mag.

Irgendetwa­s läuft falsch. Oder ist falsch gelaufen. Nur was? Sind es lediglich die Handlungen der selbstsüch­tigen Protagonis­ten, die bisweilen groteske Züge tragen? Oder warum muss eine an Demenz leidende 88Jährige in »Klagende« auf die Hilfe einer Freundin hoffen statt auf die des Staates oder die ihrer Söhne? Zuflucht vor den ungeklärte­n Fragen bieten einigen Figuren Literatur, Musik und Religion. Letztere führt in »Air Mail« schließlic­h zur heilenden Auflösung des Ichs.

Eugenides zeigt vielfach seine Figuren beim Scheitern, die dem in Amerika gesetzlich verankerte­n Streben nach Glück nicht standhalte­n. Die Beiträge aus den 90er und 00er Jahren sind stärker, da sie ein helles Licht auf die Gegenwart werfen.

Jeffrey Eugenides: Das große Experiment. A. d. Amerik. v. Gregor Hens. Rowohlt, 336 S., geb., 22 €.

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