Der Weg hinab
Die Familie Effinger teilt ein typisch deutsches Bürgerschicksal im Berlin der Jahrhundertwende – ihre Mitglieder sind gut situierte, gebildete Bürger. Das Familienleben zwischen der fiktiven Kleinstadt Kragsheim und Berlin ist aber zunehmend geprägt von gesellschaftspolitischen Ereignissen. Als sich der Nationalsozialismus breitmacht, wird ihr deutsches Schicksal zu einem jüdischen: »Die kleine Synagoge in Kragsheim brannte. Bertha stand davor und zwei alte Männer. Sie hatten Mäntel über den Nachthemden an, denn die SA hatte sie aus den Betten geholt. Es war eine eiskalte Nacht, aber vor dem Feuer war es warm genug.«
Die Geschichte beginnt mit dem Brief des 17-jährigen Paul Effinger an seine Eltern und mit seinen Eindrücken als Lehrling in Berlin. Als 81-Jähriger schreibt Paul 1942 seinen letzten Brief, unmittelbar vor seiner Deportation: »Ich habe an das Gute im Menschen geglaubt. Das war der tiefste Irrtum meines verfehlten Lebens.« Gabriele Tergit verfasst eine Chronik über vier Generationen hinweg, von 1878 bis 1948, und zeichnet den langen Weg in den Faschismus auf. Tergit wurde in der Weimarer Republik durch ihre feuilletonistischen Gerichtsreportagen bekannt – als kritische Beobachterin beschrieb sie die zunehmende Gewalt. Im März 1933 floh sie aus Deutschland, nachdem die SA um 3 Uhr morgens ihre Wohnung überfallen hatte. Bereits im Jahr 1931 hatte Tergit die Arbeit an dem Roman » Effingers « begonnen; mehr als zehn Jahre arbeitete sie daran. Veröffentlicht wurde er 1951 und war lange vergriffen. Tergits Erlebnisse aus den Gerichtsverhandlungen fanden ebenfalls Eingang in den Roman. 1932 schrieb sie als Reporterin über den ersten Prozess gegen Adolf Hitler. Über diese Situation sagte sie Jahre später: »Was, wenn ich einen Revolver gehabt hätte? Ich saß fünf Meter von denen weg, ich hätte Millionen von Menschen das Leben retten könnten!« (Schöffling & Co., 904 S., geb., 28 €)